Texter, Journalist und Autor Jürgen Bräunlein

Der Denkermime

Der intellektuelle Schauspieler Hanns Zischler

Rheinischer Merkur 13.03.2008

Das Café ist gut besucht. Das Stimmengewirr an den Nebentischen erreicht einen beachtlichen Lärmpegel. „Selbstwenn Sie genau hinhören, können Sie die Nationalität der Menschen, die da reden, nicht bestimmen“, überlegt Hanns Zischler, der fließend Englisch und Französisch spricht. „Das ist ein interessantes Phänomen“, sinniert er, „auch jeder Fluss rauscht anders, setzt sich aus einer Unmenge von Frequenzen zusammen.“

Hanns Zischler, Derrida-Übersetzer und Autor des preisgekrönten Buches „Kafka geht ins Kino“, ist vermutlich der intellektuellste Schauspieler hierzulande. Sein scharfer Geist entzündet sich aus dem Moment heraus auch am scheinbar Unerheblichen. Journalisten soll er gern die Fragen korrigieren, lautet ein Gerücht, und einen Regisseur hat er angeblich einmal geohrfeigt, weil er mit dessen Arbeitsweise nicht einverstanden war.

Jetzt sitzt der 60-Jährige vor einer Espressotasse, beißt in ein Croissant, ist zugewandt und höflich. Ein braunes Moleskine-Heftchen liegt neben ihm. Zischler spricht in einem freundlichen Tonfall. Kurioserweise ist der ebenso gebildete wie nicht nur in seinen Rollen kultiviert wirkende Zischler als Sohn eines einfachen Steinbruchbesitzers im fränkischen Dorf Langenaltheim aufgewachsen. „Von Kultur im engeren oder weiteren Sinne war da keine Rede“, erzählt Zischler und verbessert sich dann gleich. „Es war zwar keine kulturlose, aber eben auch keine ambitionierte Welt.“

Die Mutter starb früh, der Sohn kam ins Internat. Als Hanns Zischler mit Anfang 20 nach München und Berlin aufbrach, um sich ganz andere Welten zu erschließen, war der Vater bereits schwer krank. Zischler entdeckte das Theater und die Dramaturgie und studierte Philosophie, Ethnologie, Musikwissenschaften, Germanistik . . . „Nein!“, verbessert er fast ein wenig barsch: „Ich habe nicht studiert. Alles Unsinn! Von einem Studium im strengeren Sinne kann man nicht sprechen. Ich bin in verschiedene Vorlesungen und Seminare gegangen, habe zugehört, habe gezielt etwas davon aufgegriffen und wusste, damit will ich mich befassen.“ Ein bisschen Geld bekam er noch von zu Hause, den Rest verdiente er durch Übersetzungen und erste Arbeiten beim Film. „Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre, das war eine billige Zeit. Das Leben war nicht teuer, man brauchte wenig.“

Die 68er-Bewegung nahm er ganz anders wahr, als heute gern in den Medien kolportiert wird. „Als wäre man dauernd nur ein politischer Aktionist gewesen, wie es Joschka Fischer behauptet! Ich war’s jedenfalls nicht. Ich habe nie aufgehört, Romane zu lesen und Bilder anzuschauen.“ Auch bei diesem Thema ist Zischler an der Differenzierung interessiert, nicht aber an einer Verkürzung aufs Plakative. Das gegenwärtige 68er-Bashing wird noch weiter zunehmen, prophezeit er. „Die Vielfältigkeit und innere Gegenläufigkeit dieser Zeit war viel größer,als man es heute auf einen Begriff bringen will.“

Mit Anfang 20 war er Vollwaise. War das kein Gefühl von Einsamkeit? Zischler schweigt kurz. „Sie haben keine Wahl!“, sagt er dann, als wäre das eine Antwort, und fährt rational-analytisch fort: „Die Alternative, sofort selbst eine Familie zu gründen – im Sinne eines etwas klein geratenen Existenzialismus –, verlockte mich nicht.“ 1976 fährt er in Wim Wenders‘ heute legendärem Roadmovie „Im Lauf der Zeit“ ein Auto in die Elbe und hat damit als Schauspieler seinen Durchbruch. Es folgen Kinofilme mit Godard, Chabrol, Robert van Ackeren, Rudolf Thome und jüngst erst eine viel beachtete Rolle in Steven Spielbergs verstörend pessimistischem Polithriller „München“.

Mehr als 200 Rollen hat Zischler bis heute gespielt – darunter viele Fernsehfilme. Meistens gibt er undurchsichtige Gentlemen, dekadente Ästheten, melancholische Machtmenschen. Nebenrollen weiß er so anzulegen, dass er im Gedächtnis bleibt. Auch bei Jeanne Moreau. Als die Grande Dame des französischen Autorenfilms Mitte der 80er Jahre in Hermann Brochs dramatisierter „Erzählung der Magd Zerline“ auf dem Theater brillierte, war auch Hanns Zischler mit von der Partie. Er lag, so die Moreau später, „die meiste Zeit auf dem Sofa und sagte fast nichts … Aber er war großartig.“ „Expressive Lakonie“, so brachte ein FAZ-Journalist dieses darstellerischer Vermögen auf den Punkt.

Auf die Frage, ob er jemals einen Proleten verkörpert hat, muss Zischler lange überlegen, bis ihm ein Kurzfilm einfällt, der aber schon lange her ist. „Die größte Gefahr ist die Typisierung“, sagt er selbst. Seine Passion fürs Kino ist ansteckend: „Es gibt da Momente, wo das aller primitivste in einer Weise zusammengeht mit ganz sublimen Momenten. Das sind Mischungen, die man nur da findet. Das kitzelt an einer Stelle, wo der Verstand weit weg ist.“ Der Feingeist, dem Tändeleien im Gespräch fremd sind, überrascht mit seiner Meinung zum Walt Disney-Blockbuster „Verwünscht“: „Großartig! Ich war begeistert. Entzückt. Dass 100 Ratten mit Kakerlaken zusammen ein Zimmer aufräumen. Wo hat man so etwas vorher schon gesehen?“

Gerne würde Zischler selbst mehr komödiantische Rollen spielen. Greade hat er in einer französischen Produktion den „Schlächter von Lyon“ Klaus Barbie verkörpert. Dass der Film über den Nazi-Kriegsverbrecher in Deutschland nicht gefördert wurde, erbost ihn. Dabei brennt er für die politische Relevanz des Themas: „Ich musste im Grunde versuchen das Funktionieren eines Menschen zu zeigen, wie er seine ganzen Energien für eine Form des totalitären Denkens und für ein totalitäres System mobilisiert. Es geht also nicht darum mich in eine grauenvolle Situation hineinzuversetzen und in der Rolle zum grauenhaften Serienmörder zu werden.“ Ein solches „Method Acting“, wie es von vielen Hollywoodgrüßen praktiziert wird, ist Zischlers Sache nicht. „Bei Robert de Niro muss am Set alles authentisch sein. Ich frage mich, warum?“ Zischler spielt auch in dem neuen Film der deutschen Oscarpreisträgerin Caroline Link mit, der im Frühjahr ins Kino kommt. „Ich habe ein gutes Gefühl – aber das hat man ja immer.“ Für Schaumschlägerei und lautes Marketinggetöse ist Zischler nicht zu haben. Andererseits ist es ihm schon wichtig, welches Bild von ihm in den Medien vermittelt wird. Dass die Schauspielerei bei ihm im Zentrum stünde, weist er etwa mit Vehemenz zurück. „Es gibt bei mir eine Bipolarität von Schreiben und sich Versenken einerseits und dem Darstellen und dem sofort nach außen gehen andererseits. Ich bewege mich auf den Text zu oder gebe ein Bild von mir. Wenn ich nur das eine machen würde, würde mir etwas fehlen.“

Im März erscheint Zischlers neues Buch. Kecker Titel „Nase für Neuigkeiten.“ Gemeinsam mit der schwedischen Literaturwissenschaftlerin Sara Danius hat er sich James Joyce zugewandt. Akribisch gehen die Autoren den Spuren nach, wie Joyce vermischte Nachrichten aus Zeitungen („Fait divers“) im „Ulysses“ verarbeitete. Vor zwei Jahren hat Zischler den Alpheus-Verlag neu gegründet, in dem zwischen 1979 und 1983 vor allem vergessene Autoren der Pariser Avantgarde veröffentlicht wurden: Unica Zürn, Maurice Blanchot, Edmond Jacobs. Im Alpheus-Verlag erscheint auch TUMULT, eine ungewöhnliche Schriftenreihe, die von der Einstellung bedroht war, bevor sich Zischler ihrer annahm. Die Zeitschrift erklärt sich – nicht ohne ironischen Hintersinn – für  „Verkehrswissenschaft“ zuständig, um nicht pauschal der Sozialwissenschaft zugeschlagen zu werden. Ob „Gesichtermoden“ oder „Der hinreiszende Klang des Amerikanischen“ – jede Ausgabe hat ein eigenes Thema. TUMULT ist ein publizistisches Kleinod. Hier tobt der Intellekt jenseits rigider akademischer Vorgaben. Die ästhetische Aufmachung ist eine Augenweide.

Warum diese Kunst- und Kulturanstrengung, der sich Zischler, das intellektuelle Multitalent, so konsequent hingibt? Wer ihn für einen L’art-pour-l’art-Ästheten hält, irrt sich. „Bildung und Kultur veredeln den Menschen“, argumentiert er. „Sie helfen dabei, dass unsere Gesinnung sittlicher wird. Wie verhalte ich mich in der Welt, wie verhalte ich mich gegenüber meinem nächsten? Wenn ich Beispiele aus der Mythologie, aus der Bildenden Kunst oder aus dem Kino kenne, sehe ich, wie richtiges Verhalten möglich ist. Das ist so wie ein Handlauf bei der Treppe.“

Zischler hat sich auch als Sprecher von Hör-CDS einen Namen gemacht. Seine Stimme ist beim Romanklassiker „Dr. Faustus“ ebenso zu hören wie bei Einspielungen experimenteller Prosa wie der von Kathrin Röggla. „Bei Hör-CDs gibt es zweifellos Verluste, denn eine bestimmte Interpretation des Textes wird vorgegeben und damit als gegeben angenommen, andererseits gibt es jetzt wieder die Chance, Hörspiele in großem Stil zu produzieren.“ Zischler vergisst nicht darauf hinzuweisen, dass er selbst einen grundsätzlichen Essay zum Thema geschrieben hat.

Über sein Privatleben spricht er hingegen ungern. Zusammen mit seiner Frau, einer Landschaftsarchitektin, bewohnt er Teile einer Villa im Charlottenburger Westend. Auch dass er einen mittlerweile erwachsenen Sohn hat, wissen wenige, und ist „im Rahmen unseres Gespräches“ wie er zu verstehen gibt, kein Thema. Zu entlocken ist ihm immerhin eine kleine Generationsskizze: „Es ist heute sehr viel schwieriger geworden, mit 25 oder 30 Jahren eine Wahl zu treffen, weil die Möglichkeiten zu wählen viel eingeschränkter sind. Früher, sagen wir in den Jahren 1966 bis 1975, war vieles verfügbar. Man hatte mehr Freiheiten einer Weiterentwicklung. Die existentiellen Ängste sind objektiv größer geworden.“ Geändert hat sich für ihn auch noch etwas anderes: „Anfang der 70er Jahre hat man schon vom Konsumterror gesprochen. Dabei ist der Terror erst jetzt gekommen. Ich habe nicht geglaubt, dass der Konsumismus in diesem Ausmaß zunehmen wird. Das war damals niemandem geheuer.“ Auch über die neuen gesetzlichen Auflagen zum Umweltschutz kann Zischler nur den Kopf schütteln: „In der Diskussion wird immer nur darüber gesprochen, wie man den Co2-Ausstoß reduzieren kann, nicht aber darüber, ob man überhaupt ein Drittauto braucht.“

Zum Schluss will der Journalist noch die Geschichte mit der Ohrfeige wissen. Die stimme schon, sagt Zischler und erzählt sie so, als hätte sie gar nichts Komisches. Der Regisseur hat eine Szene ständig wiederholen lassen. Und das ohne ersichtlichen Grund außer der eigenen Unsicherheit. Nach der 12. Wiederholung drohte Zischler: Wenn du’s nochmals machen willst, dann kriegst du eine gescheuert! Tatsächlich bestand der Regisseur auf einen 13. Dreh der Szene und der Schauspieler gab ihm die angedrohte Backpfeife. Wie reagierte der Regisseur? Der Regisseur war einfach nur verblüfft, stellt Zischler nüchtern fest, und beendete die Dreharbeiten für diesen Tag.

Jürgen Bräunlein

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