Texter, Journalist und Autor Jürgen Bräunlein

Lexikon der schlechten Gewohnheiten

von Jürgen Bräunlein
Rowohlt 2007,
224 Seiten, ISBN 978-3499622212

Die Firnis des zivilisierten Lebens ist dünn, der Lack bröckelt. Dunkle Triebe, verschwommene Bedürfnisse und sonderbare Vorstellungen bemächtigen sich unserer, und wir werden von ihnen mit gerissen. So passiert es. Plötzlich bohren wir in der Nase, kauen an den Fingernägeln und starren ungeniert in Ausschnitte und auf Gesichtswarzen. Wir stürmen als Erste zum Büffet, schauen zur Unzeit „Unterschichtenfernsehen“ oder schnarchen im Theater – sogar in den vordersten Reihen.

All das tut man nicht. Schon gar nicht, wenn man Abitur und eine solide Kinderstube hat. Es sind schlechte Gewohnheiten, die man besser vertuscht. Erst recht in Zeiten, in denen Benimm-Bücher boomen, Tugendwächter zur Vollkommenheit ermahnen, Coachs an unserem Auftreten feilen. In der verlotterten Mittelmaßrepublik sehnt man sich wieder nach formvollendetem Auftreten, tadellosen Manieren und normierter Geschmacksicherheit. Gerade bei den jungen Konservativen zeigt sich eine bierernste Fixierung auf Knicks und Knigge. Autoren wie Florian Illies, Asfa-Wossen Asserate und Alexander von Schönburg liefern die elitäre Programmatik dazu. Das Leben, so der Grundtenor, wäre doch sehr viel besser, wenn sich noch mehr Menschen die „richtigen“ Umgangsformen antrainierten.

Das Lexikon der schlechten Gewohnheiten rebelliert gegen diesen Zeitgeist einer ästhetischen Haltung ohne Inhalt und spottet über die „Gouvernantenprosa“ gängiger Benimm-Dich-Bücher. An gesellschaftlichen Vorschriften, so watteweich sie auch verpackt sein mögen, besteht kein Mangel, glaubt der Autor. Dringend unter Artenschutz gestellt werden müssen hingegen unsere unbewussten Ausbrüche aus der gestrengen Etikette. Denn sie sind Impulse der Freiheit. So seziert das Buch unsere schlechten Gewohnheiten ohne Vorurteile und mit Hingabe. Psychologie, Evolutionsbiologie, Anthropologie, Beispiele aus dem Tierreich und nicht zuletzt eine gute Prise gesunder Menschenverstand helfen dabei, „bad manners“ ins richtige Licht zu rücken. Zeugnisse aus der Kulturgeschichte, der Literatur und der Promiwelt zeigen: Wir sind nicht allein!

Pressestimmen 

„Alles schön und gut. Aber: Gab es in der letzten Zeit nicht schon viel zu viele Möchtegern-Knigges des 21. Jahrhunderts? Und: Warum sollte man ein Buch lesen, das einem permanent die eigene Unzulänglichkeit vor die Nase hält? Ganz einfach: Weil es im vorliegenden Fall extrem viel Spaß macht. Was nicht verwundert, wenn man den Autor und seinen Hang zum (Selbst-)Ironischen sowie seine erfreulich niedrige Hemmschwelle gegenüber allem Profanen und Populärkulturellem kennt – weshalb seine rund 60 Kurz-Essays weniger zur Abschreckung taugen als zu genussvoller Nachahmung inspirieren. In «F» wie «Fressanfälle» geht Bräunlein dem Bridget-Jones-Syndrom maßlosen Schokoladeverzehrs nach, unter «K» wie «Kulturschlaf», dem Schlafen oder gar Schnarchen während Theater-, Film- oder Musikdarbietungen: Bei diesem Phänomen vermutet der Autor ein «archetypisches Duell» zwischen Zivilisation und Natur – und bitte, man muss in unsrer hochzivilisierten Welt auch mal letzterer folgen. Unter «S» wie «Souvenirs stehlen» erfahren wir, dass Selbigem nicht nur der Autor frönt, sondern auch Promis wie Catherine Deneuve und Renate Künast. Auch beim «Zunge herausstrecken» – siehe Einstein! – ist man in bester Gesellschaft. Nicht dass der Autor hier ein Plädoyer für heimliches Missverhalten hielte, aber er lässt – wie wohltuend – moralisch Milde walten, schließlich beschreibt er keine seltenen Individualticks, sondern regelrechte Massenphänomene. Stilistisch wiederum bewährt er sich als gnadenlos satirischer Sezierer alltäglicher und anderer menschlicher Verfehlungen. Nicht zuletzt deshalb ziehen wir folgendes Resumée: Nie war schlechtes Benehmen unterhaltsamer!“

(Nürnberger Zeitung, 4.8.2007)

„Über schlechte Gewohnheiten parliert Jürgen Bräunlein, wie das Schmatzen, Gähnen, Bohren in der Nase oder das Liegenlassen von Hundekot. Da glaubt man doch gleich, hier führt mal wieder jemand einen Kreuzzug gegen politische Korrektheit und will es den Leuten wieder richtig reinsagen. Doch dem ist nicht so, denn zum einen beweist Bräunlein Witz, und zum anderen ist er auch belesen. Er bringt viele Verweise zur Historie, zu Psychologie, Anthropologie, schlägt noch Haken ins Tierreich und argumentiert verblüffend ungeniert. Zur Verteidigung des „Extremcouching“ führt er etwa Iwan Gontscharow mit seinem „Oblomow“ an sowie „Bartleby“ von Hermann Melville. Er versteht sein Buch als eine Art Streitschrift gegen die Neukonservativen, die mit gesteigertem Interesse an guten Manieren, Benimmregeln für jede Lebenslage eigentlich nur Formen gegen Inhalte tauschen wollen. Die schlechten Gewohnheiten sind hingegen für Bräunlein ein Ausbruchsversuch, eine Suche nach Freiheit in einer normierten Welt. Das ist ganz sympathisch und unterstützenswert, doch muss man dabei wirklich im Stehen pinkeln? Da beginnt die neue Freiheit bald zu stinken.“

(BUCHKULTUR/ August/September 2007)

„Die kurzweilige, unauffällig bildende, maliziös hintergründige Enzyklopädie über unsere Schattenseiten lässt keinen Leser in Frieden. Wer sich hier nicht ertappt fühlt, ist kein Mensch, oder gibt vor, etwas Besseres zu sein. Wer hat noch nicht an der roten Ampel gepopelt, ohne Fächer vor dem Mund gegähnt, sich selbst manisch im Internet gesucht oder sich für die eigenen Eltern geschämt? Wer bishr noch nicht ahnte, warum er sich so daneben benimmt und auch nicht besser ist als der Typ mit Anzug und Krawatte und Benimmdiplom, der erfährt hier in einer atemberaubenden Mischung aus Psychologie und Zoologoe, Feuilleton und Klatschpresse, was dahinter steckt und warum es so gesund ist, Menschen ins Wort zu fallen oder den Hund mit ins Bett zu nehmen.“

(SWR3/ Petra van Cronenburg)

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