Texter, Journalist und Autor Jürgen Bräunlein

Programmkritik: Schwache Ausstrahlung

Weder mit dem Ersten, noch mit dem Zweiten sieht man richtig gut

Rheinischer Merkur vom 19.3.2009

Am 24. Februar 2004 kurz vor 20.15 Uhr begriff noch der sorgloseste Zuschauer, wie schlecht es ums öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland bestellt ist. Ohne jegliche sichtbare Regung folgte „Tagesschau“-Sprecher Jens Riewa seinem Skript und las vor: „Der Sänger und Medienstar Daniel Küblböck ist bei einem Verkehrsunfall in Niederbayern verletzt worden.“ Dabei wurde die Unfallstelle auf dem Bildschirm gezeigt. Der Schock, der sich beim Zuschauer einstellte, galt weniger dem banalen Ereignis, das als „Gurkenlaster-Unfall“ in die Geschichte des Boulevard einging, sondern dem Umstand, dass die dienstälteste Nachrichtensendung des deutschen Fernsehens (Erstausstrahlung 26. Dezember 1952) bei dieser Gelegenheit gleich mit entgleist war. Die Meldung über den heute längst vergessenen „Deutschland-sucht-den-Superstar“-Drittplatzierten passte ganz und gar nicht zu der verlässlich seriösen alten Tante „Tagesschau“. Es war, als hätte sie auf einmal ihre Unterwäsche vorgezeigt. Die ARD hatte sich zum Affen gemacht und – was noch schlimmer wog – zum nächsten Glied der kreischend lauten RTL-Verwertungskette.

Warum auch nicht, könnte man sagen. Wenn der Kultur- und Bildungsstandort Deutschland schon so verlottert ist, dass die Jury des Deutschen Filmpreises menschenrechtsverletzendes Pfui-TV wie „Big Brother“ im Jahr 2001 als preiswürdig nominiert, dann geht von 30 Sekunden Küblböck in der „Tagesschau“ das Abendland doch nicht unter, oder? Schließlich hat ja auch die Schleichwerbung für cholesterinarme Margarine und andere lebensnotwendige Produkte in der ARD-Serie „Marienhof“ keine weiteren Schäden angerichtet.

Mitte der 1980er-Jahre fing das Drama an. Die Öffentlich-Rechtlichen bekamen auf einmal fiese Konkurrenten, die sich nicht so einfach abschütteln ließen. Mit feisten Tabubrüchen, simpel gestrickten Trivial-Formaten und hie und da gewitzten Innovationen begannen die Privatsender, ARD und ZDF die Kundschaft abzujagen. Es war ein bisschen so, als sei dem müde gewordenen Monarchen plötzlich ein viel jüngerer, mopsfideler, allerdings auch etwas skrupelloser Herrscher zur Seite gestellt worden. Auf einmal konnte die äußere Verfassung des alten Monarchen nicht mehr vertuscht werden. Er und die Seinen waren viel zu satt, zu behäbig und auch zu unbeweglich geworden. Sie selbst sahen das natürlich anders.

Seit der Einführung des dualen Systems sind ganze 25 Jahre vergangen. Da wäre Zeit genug gewesen, sich schwungvoll neu zu positionieren, eine angemessene, progressive Haltung zu finden und nicht zuletzt auch schlüssige Antworten auf unangenehme Fragen wie diese: Gibt es öffentlich-rechtliche Inhalte, die trotz hoher Ansprüche attraktiv für ein Massenpublikum sein können?

Noch immer aber stehen ARD und ZDF wie begossene Pudel da. Unentschlossen, defensiv, unambitioniert, vielleicht sogar resignativ. Noch immer scheinen sie nicht wirklich zu wissen, was sie tun und was sie wirklich wollen und wo die eigenen Stärken liegen. Auf der einen Seite steht der Bildungsauftrag, den die Öffentlich-Rechtlichen befolgen sollen, den aber klar zu definieren sich immer weniger Entscheidungsträger trauen. Auf der anderen Seite steht der Wunsch nach hoher Einschaltquote, und dorthin neigen sich immer mehr Köpfe. So sieht das Fernsehprogramm im Jahre 2009 auch aus.

Auf jede Stunde Qualitätsfernsehen kommt mindestens das Dreifache an Sendeware, welche die Privaten kaum seichter feilbieten. Für jeden „Tatort“ und jede „Bella Block“ muss der Zuschauer mindestens einen Musikantenstadl, eine Rosamunde-Pilcher-Verfilmung, einen „Bergdoktor“, einen „Landarzt“ und natürlich eine „Landärztin“ mit Christine Neubauer in der Hauptrolle in Kauf nehmen. Für die Talkshow-Premiumklasse mit Maybrit Illner, Sandra Maischberger und Frank Plasberg hat das Publikum mit dreimal wöchentlich „Kerner“, „Leute Heute“ und „Lanz kocht“ zu büßen. Die wenigen Kultursendungen die vor Mitternacht laufen, wie „Titel Thesen Temperamente“ und „Aspekte“, sind offenbar nur noch möglich, weil es zum Ausgleich werktags von 15 bis 18 Uhr drei Telenovelas gibt.

Um die Tragweite dieser bedrückenden Programmentscheidung zu begreifen, reicht oft schon der Titel: „Rote Rosen“, „Sturm der Liebe“, „Alisa – Folge deinem Herzen“. In welche trivialen Abgründe wird der ARD- und ZDF-Anhänger da gestoßen, der herzlich gern mit den beiden „in der ersten Reihe sitzen“ bleiben möchte? Der gebührenfinanzierte öffentlich-rechtliche Rundfunk legitimiert sich über den Qualitätsstandard seiner Programme. Ist es vermessen, zu fordern, dass dieser Standard auch in der Unterhaltungssparte nicht unterschritten wird? Umgekehrt stellt sich die Frage, wann und wo in jüngster Zeit Sendungen liefen, die uns Wissensdurstigen, die wir von wirtschaftlichen Zusammenhängen kaum mehr als eine blasse Ahnung haben, die Hintergründe zur Finanzkrise erklärt hätten? Und wo waren in den letzten Jahren die gut gemachten, engagierten Versuche, für uns Lernwillige ein wenig Licht ins Dunkel der Gesundheitsreform zu bringen?

Vermutlich scheitern solche Formate im Fernsehen bereits daran, dass sich die Verantwortlichen im Vorfeld nicht darauf einigen können, welche Politiker auftreten dürfen, damit nicht der Eindruck entsteht, eine Partei würde übervorteilt werden. Scheinbar geht es Politikern nur noch darum, wie ihre parteipolitischen Machtansprüche im öffentlich-rechtlichen Fernsehen am besten durchgesetzt werden können. Diskussionen über den Schlüsselbegriff Bildungsauftrag werden überhaupt nicht mehr richtig geführt und versanden meistens rasch im Ungefähren. Und irgendwie wird dann weitergewurschtelt. Würde der Bildungsauftrag jedoch ernst genommen werden, könnte eine herausragende Dokumentation wie „Das Schweigen der Quandts“ über den Umgang der BMW-Eigentümerfamilie mit ihren Verstrickungen während des Dritten Reichs unmöglich um 23.30 Uhr ausgestrahlt werden. Vier Jahre Recherche stecken in den Film. Aber die ARD hat nichts Besseres zu tun, als dieses Goldstück journalistischer Aufklärungsarbeit fast ungesehen zur Nachtzeit zu versenken. Darauf muss erst einmal jemand kommen.

Das Unerquickliche am Niveauabbau, den die Öffentlich-Rechtlichen seit Jahren betreiben, besteht auch darin, dass sie die werbefinanzierte Konkurrenz blindlings kopieren. Offenbar in Anlehnung an Heidi Klums Laufstegwettbewerb „Germany’s Next Topmodel“ wollte die ARD mit der täglichen Coaching-Show „Bruce“ etwas Ähnliches ins quotenschwache Vorabendprogramm hieven und floppte grandios trotz aufwendiger Werbekampagne. Was noch mehr schmerzt: ARD und ZDF kupfern vom Privatfernsehen selbst das ab, was ursprünglich von ihnen stammt. Mit Peter Frankenfeld, Robert Lembke oder Hans-Joachim Kulenkampff haben sie das Format der Quizsendung in den 1970er- und 1980er-Jahren immer wieder variiert, erweitert und zu neuem Leben erweckt. Doch als sich die Chance bot, „Wer wird Millionär?“ ins Programm zu nehmen, griff keiner zu. Es machte den Anschein, als trauten die Öffentlich-Rechtlichen ihrer eigenen Geschichte nicht. Kaum hatte „Wer wird Millionär?“ allerdings bei der Konkurrenz eingeschlagen, installierte die ARD mit Jörg Pilawa ein bescheidenes Plagiat. Kein Erfolg, mit dem man sich rühmen sollte.

Und der Humor? Bis heute leider eine zähe Angelegenheit bei ARD und ZDF. Mit frechen, selbstironischen jungen Talenten wussten die Öffentlich-Rechtlichen nie viel anzufangen. Hape Kerkeling wurde mit dem Comedy-Format „Total Normal“ bei der ARD bekannt, später aber hatte man keine rechte Verwendung mehr für den mehrfach ausgezeichneten Entertainer. Warum wurde er nicht zum Nachfolger eines Rudi Carrell aufgebaut? Anke Engelke wiederum machte ihre Karriere erst bei SAT 1, ehe sich das Erste halbherzig für sie interessierte. Überhaupt fällt dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen oft nichts Phantasievolleres ein, als die mittlerweile auch schon gestandenen Showgrößen von RTL und SAT 1 abzuwerben, leider zumeist dann, wenn sie ihren Zenit bereits überschritten haben und handzahm geworden sind, so im Fall von Harald Schmidt. Heuert man hingegen die jungen Wilden an – Oliver Pocher ist seit Wochen Reizthema bei der ARD -, stellt sich umgehend Muffensausen ein.

Natürlich, Kritik und Häme gegen ARD und ZDF, wie sie hier enttäuscht und auch etwas wütend niedergeschrieben werden, sind übertrieben, überspitzt und ungerecht. Aber eben nur ein bisschen. Denn vor Augen halten muss man sich auch: Wo den Privatsendern im Zuge der Finanzkrise längst wichtige Werbekunden weggebrochen sind, stehen die Öffentlich-Rechtlichen finanziell blendend da. Von wegen Nullrunde!

Ab 2009 bekommen sie sogar monatlich 95 Cent mehr pro Gebührenzahler (dass ARD und ZDF 1,65 Euro mehr zu benötigen glaubten, soll hier nicht verschwiegen werden). Wer aber so proper aufgestellt ist, der kann investieren. In Bildungs- und Informationsprogramme. Er kann pfiffig sein, Innovationen wagen. So wie einst Dietmar Schönherr und Vivi Bach, die mit „Wünsch dir was“ die gängige Samstagabend-Familienunterhaltung gegen den Strich bürsteten und mit kleinen Tabubrüchen Gesellschaftskritik übten. Oder Wolfgang Menge, der mit seinen provokanten Stoffen („Ein Herz und eine Seele“, „Das Millionenspiel“) lange Zeit selbstverständlicher Dauergast bei der ARD war. Wo aber sind sie geblieben, die Dietls und Wedels von heute?

ARD und ZDF müssen unbedingt den Mut aufbringen, einfach einmal aus dem Quotendruck auszusteigen. Gefordert hat das kein Geringerer als Thomas Gottschalk. Ausgerechnet Gottschalk, der bei „Wetten, dass ..?“ kürzlich Kandidaten an Kothaufen riechen ließ und damit eine Prise Ekel-Performance à la Dschungelcamp, das zeitgleich auf RTL lief, ins ZDF brachte! Trotzdem hat Gottschalk recht. Zu oft und zu schnell setzten die Öffentlich-Rechtlichen Sendungen wieder ab, weil angeblich zu wenig Menschen zuschauten.

In Wirklichkeit fehlt oft nur das Vertrauen in die eigenen Ideen. Die ironische Politserie „Kanzleramt“ zum Beispiel. Die war flott inszeniert, herausragend gespielt und mit Witz und Charme prima aufpoliert. Warum warfen die Programmmacher hier so früh die Flinte ins Korn? Programminnovative Sendungen setzen sich mitunter erst später durch. So hielt beispielsweise die „Lindenstraße“ durch, die erste deutsche Seifenoper im deutschen Fernsehen, die den gesellschaftlichen Wandel im Lande bis heute so schön spiegelt.

Oder „Das literarische Quartett“. In 13 Jahren wurden 385 Bücher besprochen. Anfänglich glaubte kaum einer, dass sich die Sendung halten würde. Rückblickend erweist sie sich als einer der letzten großen Glücksgriffe des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Ob man Reich-Ranicki mochte oder nicht, unter den erschwerten Bedingungen der Spaßgesellschaft war die postmoderne Zusammenlegung von Fachkompetenz und Prominenz ein kluges Konzept. Knapp 900 000 Zuschauer haben durchschnittlich die 75 Minuten lange Sendung verfolgt. In Anbetracht der späten Sendezeit ein unerhörter Erfolg – auch für den Bildungsstandort Deutschland.

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