Texter, Journalist und Autor Jürgen Bräunlein

Inszenierter Grössenwahn als Volkssport

Fünfzig Jahre «Guinness-Buch der Rekorde»

Neue Zürcher Zeitung vom 22.8.2005

Im August 1955 erschien die erste Ausgabe des «Guinness Book of Records». Entstanden aus einem spontanen Einfall, erwies sich das Werk sofort als Verkaufserfolg. Heute verkörpert es die bisweilen bizarre Rekordsucht der modernen Gesellschaft.

Hugh Beaver, in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg Geschäftsführer der Guinness-Brauerei in Irland, konnte selbst in seiner Freizeit nicht von seiner Arbeit lassen. Als er 1951 in der irischen Grafschaft Wexford auf Vogeljagd ging und ihm ein Goldregenpfeifer, den er schon zielsicher vor seiner Flinte hatte, dann doch entwischte, wurmte das den 61-Jährigen nicht nur, er entwickelte aus dem Vorfall auch noch eine – wie sich zeigen sollte – zündende Geschäftsidee. War das entflogene Federvieh nicht vielleicht das schnellste seiner Art, so fragte er sich. Das wäre nämlich die schmeichelhafteste Erklärung für den Misserfolg des Jägers.

Weder in Gesprächen mit Ornithologen noch beim Nachschlagen in seiner gut sortierten Bibliothek konnte Beaver die Antwort finden. Die Wissenslücke schmerzte, und er kam – gewissermassen ein kompensatorischer Ausweg – auf den Einfall, ein Buch mit Rekorden und Höchstleistungen zusammenzustellen. So etwas gab es bisher nicht. Auch den idealen Vertriebsort hatte der Geschäftsmann schon vor Augen: die Pubs in Grossbritannien und Irland, denn dort wurde traditionell recht lebhaft um Bestmarken gestritten und in der Hitze des Gefechts auch grosszügig der Durst gelöscht. Ein Buch der Superlative mit dem Titel «Guinness», so dachte Beaver, wies den wettseligen Kneipengängern gleich den Weg zum richtigen Zapfhahn. Die perfekte Schleichwerbung also.

Beaver beauftragte die Londoner Rechercheagentur «Facts and Figures», Material für ein solches Nachschlagewerk zu sammeln. Die Inhaber, die Brüder Norris und Ross McWhirter, erwiesen sich als die Idealbesetzung. Beide waren begabte Journalisten, der eine Jurist, der andere Wirtschaftswissenschafter, beide leidenschaftliche Faktenhuber. Als eineiige Zwillinge waren sie zudem bestens aufeinander eingespielt. Rastlos suchten sie nach rekordträchtigen Tatsachen und Begebenheiten aus allen Bereichen des Lebens: das Land mit den meisten Einwohnern, die Stadt mit der höchsten Mordrate, das grösste Bürogebäude, die teuerste Flasche Wein, aber auch Merkwürdigkeiten wie das höchste Kartenhaus der Welt, ein Rekord im Dauerstehen oder die Frau mit den meisten Scheidungen.

In Pubs vertrieben

Am 27.August 1955 – also vier Jahre nach Hugh Beavers Jagdpech und damit gewiss nicht in rekordverdächtiger Zeit – erschien das Werk als «Guinness Book of Records». Das erste Exemplar hatte 198 Seiten und wurde, wie vorgesehen, in den damals 81400 Pubs von Irland und Grossbritannien vertrieben, erst danach kam es in den Buchhandel. Auch hier war die Resonanz überwältigend, es erschienen bald Ausgaben in Amerika und Frankreich, 1963 folgte jene für den deutschsprachigen Raum und wurde ebenfalls ein Verkaufsschlager. Mittlerweile sind von dem «Guinness-Buch der Rekorde» über 100 Millionen Exemplare in 40 Ländern und 37 Sprachen verkauft worden.

Der Welterfolg überrascht nicht, erkannte doch bereits Homer bei seinen Helden das ewig menschliche Bedürfnis, «immer der Erste zu sein und vorzustreben vor anderen». Und die im «Guinness-Buch» aufgestellten Rekorde wurden mit den Jahren immer extremer – und immer sonderbarer. Da entdeckt etwa jemand, der sonst ein Niemand wäre, dass er am schnellsten Kartoffeln schälen kann. Die Idee der klassischen Heldentat, von der noch Homer ausging, wird so umgeschrieben. Auch wenn die Ruhmsucht des Kartoffelschälers noch lange nicht so bedenklich ist wie die des Griechen Herostrat, erinnert sie doch daran: Herostrats pervertiertes Heldentum bestand nämlich darin, den Artemis-Tempel von Ephesos, damals eines der Weltwunder, anzuzünden.

Das «Guinness-Buch der Rekorde» – pro Ausgabe kommen mindestens 20 Prozent neue Eintragungen hinzu – passt in eine Zeit, da das Streben nach Individualität die Menschen in ein Dilemma treibt: Einerseits will man dem Mittelmass entfliehen, andererseits aber weiss man, dass es praktisch aussichtslos ist, einmal zu den Besten – in welcher Hinsicht auch immer – zu zählen. Die Freiheit zu skurrilen Rekorden liefert da den frivolen Ausweg: Jeder vollbringt das Aussergewöhnliche, er muss nur die Disziplin erst erfinden, in der er dann der Beste ist. Auf wunderbare Weise werden so aus Dilettanten Experten.

Zu verdanken haben wir das auch dem Fernsehen. Seit Jahren schon ist es zur idealen Plattform geworden, die Rekordsucht mit seichten Mitteln ins Bild zu setzen. Dem Medium gelingt es, die vermeintlichen Helden für Minuten strahlend aufs Podest der Aufmerksamkeit zu heben. Als Reinhold Beckmann 1998 zum ersten Mal die «Guinness-Show» moderierte, war das wie ein Dammbruch – auch wenn es hier noch um sportliche Höchstleistungen ging. Seitdem werden auf allen Kanälen unentwegt nicht nur die erotischsten Frauen und die besten Sänger gesucht und gefunden, sondern ebenso die klügsten Priester oder die dümmsten Autofahrer. Noch die profanste Nichtigkeit oder Lästigkeit des Alltags gewinnt über den Superlativ Glanz, Glamour und am Ende auch Bedeutung: wie die lautesten Kirchenglocken oder der längste Stau. Und kürzlich geisterte der Rekord des türkischen Regisseurs Safa Önal durch die Medien. 395 seiner Drehbücher wurden bisher verfilmt, womit er alle Kollegen in Hollywood übertroffen hat.

Chefbuchhalter des Skurrilen

Wo man sich auf keine Werte mehr einigen kann, klammert man sich an die höchste Zahl – die Bestmarke ohne Inhalt. Der Zeitgeist, vom Gottglauben befreit, fiel schon vor längerem ins positivistische 19.Jahrhundert zurück und erhob die Zahl zum neuen Fetisch. Alles wird gezählt, berechnet und vermessen. Die besten Ärzte, die besten Hochschulen, die belastbarsten Winterreifen. Tabellen und Ranglisten gehören zu den Lieblingsspielzeugen des modernen Menschen. Ben Schotts «Sammelsurium», zu Recht ein Bestseller, gehört da zu den wenigen Werken mit aufklärerischer Note. Nicht nur zeigt Schott, wie subjektiv alle Listen sind, er macht sich auch über den grassierenden Grössenwahn lustig, wenn er eine Hitliste der Elften anführt: der elftlängste Fluss, das elfthöchste Gebäude.

So viel innere Freiheit hatten die McWhirter- Brüder, die das englischsprachige «Guinness- Buch» noch bis in die siebziger Jahre betreuten, niemals aufgebracht. Bei den «Chefbuchhaltern des Skurrilen», wie man sie maliziös genannt hat, mündete das penibel Bewahrende, pedantisch Zählende ihres Jobs später in erzkonservative Politik. Verbissen bemühten sie sich um einen Sitz im Unterhaus, wetterten gegen die Iren und führten in Law-and-Order-Manier mehrere Prozesse gegen liberale Medien. Ross McWhirter, der selbst noch die Attentate in London für das «Guinness-Buch» zählte, wurde später vor offener Haustür von der IRA erschossen.

Jürgen Bräunlein

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