Texter, Journalist und Autor Jürgen Bräunlein

Die Mär vom Zuckerschlecken

Bauernidyll: Eine Melange aus Kitsch und Konservativem, Kult und Künstlichen

Rheinischer Merkur vom 18.1.2007

Nur bei wenigen Gelegenheiten erinnert sich der moderne Großstädter noch der Bauern. Beim Schachspiel, wo sie bezeichnenderweise als Erste vom Brett fliegen, an Feiertagen – da prahlt die Hausfrau, dass ihr Geflügel direkt vom Biolandwirt kommt – und immer dann, wenn das Klima verrückte Kapriolen schlägt, wie gerade wieder, und die Wetterversteher nach einer passenden Bauernregel suchen: „Weihnachten im Klee, Ostern im Schnee“. Nicht zu vergessen die Ausflüge in die Natur – zu Fontanes Zeiten noch zärtlich „Landpartien“ genannt. Sehr beliebt ist die Hochzeit im frühsommerlichen Grün mit angekarrten Bierfässern, Schwein am Spieß und dem Walzer in der Scheune.

Doch Illusion und Selbstbetrug sind stets mit dabei: Das Essen kommt inklusive Wärmeplatten vom Catering und die Musik vom angesagten Hauptstadt-DJ, die Scheune ist dank Denkmalschutz luxussaniert und der Gastgeber oft gar nicht in der Lage, das Fass fachgerecht anzuzapfen. Über all das ließe sich nur hämisch spotten, gäbe es nicht jenen Kern, der unsere diffuse Sehnsucht nach solchen Bausteinen ländlichen Lebens verstehbar macht. In der bäuerlichen Kultur liegen unsere Wurzeln.

Dass der moderne Europäer allerdings direkt von eingewanderten Bauern abstammt, ist mittlerweile zweifelhaft. Unsere Vorfahren, so der Stand der Wissenschaft, waren die Jäger und Sammler, die den Kontinent vor rund 40.000 Jahren besiedelten, allerdings übernahmen sie die Kulturtechniken von den Bauern. Sie bauten wetterbeständige Behausungen, trotzten den Wäldern Land ab, säten Kulturpflanzen, züchteten Vieh und legten sich manche Haustiere zu. Dabei zeigte sich der Überlebensvorteil gegenüber den Nomaden, die mit ihren Nutztieren von Weide zu Weide zogen, aber alle Lebensmittel, die sie nicht selbst erwirtschaften konnten, anderweitig erwerben mussten.

Der Bauer aber gilt als souveräner Selbstversorger. Das ist ein wesentlicher Grund für seinen überwältigenden Nimbus, der bis heute anhält: Wer, wenn nicht er, vermag den von Ölpreis und Dollarkurs gesteuerten Unsicherheiten einer globalisierten Welt die Stirn zu bieten? Ganz frei von zivilisatorischen Zumutungen wie McDonald’s und Fertigsuppe, Gammelfleisch und Markenkult tut er gesund und satt sein autonomes Werk. Einzig: Diese Vorstellung entsprach kaum jemals der bäuerlichen Realität, sondern einem selten erreichten Idealtypus, der in der romantischen Verklärung bis heute nachwirkt.

Pech für den Zweitgeborenen

Milchprodukte und Fleisch kamen in den bäuerlichen Familien um 1800 nur an Feiertagen auf den Tisch. Das Beste musste verkauft werden, damit der Hof überleben konnte. Man aß meistens Brot und Rüben, die Bauernkate war eben kein Herrenhaus. Dort hingen aber vielleicht die Bilder von Pieter Brueghel, dem Älteren. Da sah man dann reich gedeckte Tische bei Bauernhochzeiten, fesche Landmänner, die, obwohl etwas beschwipst, immer noch anmutig mit drallen Mägden tanzen. Die Bauern, ein temperamentvolles, liebenswertes und auch noch sauberes Völkchen eben, fröhlich, urwüchsig und von natürlicher Triebhaftigkeit. „Bauernbrueghels“ Gemälde waren geruchsneutral und lärmfrei. Kein Misthaufen stank, kein ungehobeltes Benehmen rumorte von der Leinwand herunter.

Diese bäuerlichen Idyllen in Öl verschwiegen eine harte Realität, die der niederländische Maler Adriaen Brouwer etwa zeitgleich durchaus unverblümt zeigte: Derbe Bauern mit schmutzigen, zerrissenen Jacken und ungepflegten Haaren ließen sich mit dumpfen, abgearbeiteten Gesichtern in Wirtshäusern gehen oder randalierten gar.

Das bäuerliche Leben war nie ein Zuckerschlecken. Große körperliche Anstrengung auf dem Acker, elf bis zwölf Arbeitsstunden täglich, hinzu kamen die Schattenseiten einer streng patriarchalischen Familienordnung. Der zweitgeborene Sohn ging stets leer aus und durfte, wenn er Glück hatte, wenigstens Volksschullehrer werden, die übrig gebliebenen Töchter schickte man ins Kloster oder duldete sie in der Stellung einer Magd. Die Alten, die keine Arbeitskraft mehr beisteuern konnten, mussten betteln gehen. Die Knechte hatten es noch schlechter. In Preußen konnten sie erst ab 1918 über ihren Wohnort selbst entscheiden.

Im 19. Jahrhundert, da lebte noch die Mehrheit der Europäer auf dem Land, gab es die verschiedensten Interessengruppen – heute heißen sie Lobbyisten -, denen an einer Verklärung des Bauernstandes sehr gelegen war. Großbauern und Großgrundbesitzer wollten nicht noch mehr Arbeitskräfte verlieren, schließlich setzte die Landflucht ein, zugespitzt in der großen Agrarkrise der 1880er-Jahre.

Katholische Priester wiederum fürchteten den säkularisierenden Einfluss der Städte und beschworen die Tugend auf dem Dorfe – auch das mehr eine Schimäre als ein Faktum. Der deutsche Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl half mit, die miserablen Lebensbedingungen auf dem Land zu vertuschen: „Es ruht“, so schrieb er, „eine unüberwindliche konservative Macht in der deutschen Nation, ein fester, trotz allem Wechsel beharrender Kern, und das sind unsere Bauern.“

Längst haben sich Situation und Berufsbild der Bauern gewandelt. Die wenigen Bauern, die es heute noch gibt, sind zumeist Agrarfabrikanten, Manager, Spezialisten. Das Internet kennen sie oft besser als den Pflug und das Feld. Manche Großstadt-Büroarbeiter sehen das mit Unbehagen. In seinem „Versuch über die Müdigkeit“ pries Peter Handke etwa den „gesunden“ Schlaf des hart ackernden Landbauern, so wie es nur ein Intellektueller tun kann, der den ganzen Tag auf seinem Schreibtischstuhl klebt und daran leidet, dass er sich nicht zum Spaziergehen aufraffen kann.

Je weiter wir uns vom natürlichen Leben – oder von dem, was wir dafür halten – entfernen, desto heftiger holt uns das scheinbar Verlorene nostalgisch ein. Kulturhistorisch verläuft das in Wellenbewegungen. Mit seinem Roman „Segen der Erde“, einem Hymnus auf das bäuerliche Leben, erlangte Knut Hamsun 1917 Weltruhm und später dann den Literaturnobelpreis – für die Nazis war es ein leichtes Spiel, die Prosa voller Pathos ideologisch zu missbrauchen. Im Nachkriegsdeutschland ließen das „Schwarzwaldmädel“, „Die Geierwally“ oder „Uli, der Knecht“ ebenfalls bäuerliche Welten verkitscht wiederauferstehen.

„Das große Buch von der Landwirtschaft“, 1976 erschienen und von dem Iren John Seymour verfasst, wurde zum Kultbuch der Öko-Bewegung, die sich so aufrichtig für ein alternatives Landleben begeisterte, aber bei den Mühen der Umsetzung rasch die Waffen streckte. Dass dieses Buch gerade von Manufactum wieder aufgelegt wurde, ist schlüssig: Bei dem Waltroper Versandhändler („Es gibt sie noch, die guten Dingen“) mit hochpreisigen Waren aus Handwerksbetrieben, Klöstern und bäuerlichen Betrieben können gutbetuchte Konservative mit ökologischem Anspruch Saatgut und Gewürze ordern. Für die Sehnsüchte der breiten Masse bleibt die Bauernfolklore, wie sie uns von Fremdenverkehrsprospekten entgegenlacht. Da locken Brauchtumsfeste, die so tun, als seien sie authentische Übernahmen von anno dazumal.

Solche falsche Wehmut versuchte die ARD vor vier Jahren mit einer Doku-Soap zu kurieren. Eine Berliner Familie durfte drei Monate lang auf einem Bauernhof im Schwarzwald leben wie vor 100 Jahren. Kein Strom, keine Heizung, kein fließend Wasser, und Konserven gab’s auch nicht. Ein gigantischer Aufwand musste betrieben werden um den Spielort – ein ehemaliges Bauernhaus – in den technischen Zustand von 1902 zurückzuversetzen. Die sechsteilige Serie war ein Quotenhit und echtes Bildungsfernsehen: Verdorbene Ernte, kranke Kinder und ein schmerzhafter Leistenbruch des Vaters – die Familie hätte die Zeitreise beinahe vorzeitig abgebrochen.

Marie-Antoinette trank Milch

Wie lässt sich auch der Hunger nach Bildung und die Offenheit für Neues preisen und zugleich auch das einfache Leben auf dem Land? Schon „Madame Bovary“ langweilte sich dort auf Dauer, auch wenn sie nichts gegen Ausflüge zu Pferd hatte. Was ihr fehlte: Abwechslung, Glamour, Theater – kurzum: Eventkultur. Der Widerspruch zwischen moderner Urbanität und simplem Naturerleben zerrt auch an uns. Und ist mit sprunghaften Wechseln zwischen Großstadtalltag und Urlaub auf dem Bauernhof nicht mehr zu kitten.

Nicht mal mit den Mitteln einer Marie-Antoinette. Die Königin führte im Versailler Schloss ein Leben in pompöser Verschwendungssucht, aber strenger Etikette. Im Park des Lustschlosses Petit Trianon, das sie von ihrem Gatten geschenkt bekam, ließ sie hingegen eine Art Bauerndorf errichten: Es gab Kühe, Ziegen, Schafe, Hühner, sogar einen weißen Bock mit vier Hörnern. Die Königin trank zum Entsetzen ihrer Umgebung kuhfrische Milch, aß hausgemachten Käse und gab sich auch sonst dem Ideal eines bäuerlichem Leben hin, wie sie es sich, vage inspiriert von Rousseaus Postulat „Zurück zur Natur“, eben so vorstellte.

Allerdings beackerte sie ihre frisch angelegten Beete mit silbernem Rechen und Eimerchen aus Porzellan. Auch das Interieur mit Boudoir und  Billardzimmer hatte nichts mit dem damaligen Landleben zutun. Das Resultat ihrer Liebe zum bäuerlichen Dasein war nichts anderes als eine auf die Spitze getriebene Künstlichkeit. Oder freundlich formuliert: echter trash.

Jürgen Bräunlein

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