Texter, Journalist und Autor Jürgen Bräunlein

Denkerin des Alltags

Die Publizistin Silvia Bovenschen

Rheinischer Merkur 25.01.2007

Erst vor kurzem wurde in ihrer Wohnung eingebrochen und ihr Laptop gestohlen, mit all den ungesicherten Textdateien und der privaten E-Mail-Korrespondenz. Silvia Bovenschen erzählt es gefasst und auch davon, dass sich die meisten ihrer Freunde eher für den Einbruch an sich interessierten, sie aber etwas ganz anderes immer noch beschäftigt: die Verletzung ihrer Intimsphäre. Sie fühlte sich nämlich so, als hätte jemand ihre sämtlichen Schubladen durchwühlt, denn auf den meisten PCs sei heute ja mehr Persönliches gespeichert, als an jedem anderen Ort der Wohnung zu finden ist. Verrückt sei das!

Wer mit der Berliner Literaturwissenschaftlerin und Essayistin Silvia Bovenschen ins Gespräch kommt, ist schnell bei Grundsätzlichem angelangt. Kaum ein Erlebnis, mag es zunächst auch banal erscheinen, das Silvia Bovenschen nicht eine weiterführende Überlegung wert ist. Erzählen und Reflektieren fallen dann in eins. Ihre Augen schauen konzentriert und zielgerichtet nach vorne, manchmal lacht sie, weil etwas doch zu komisch ist, dann gehen ihre Augenbrauen mit nach oben. Silvia Bovenschen ist eben, wie ein Kollege schrieb, „hellwach bis zum Hohn“.

Die promovierte Wissenschaftlerin hat sich nie um die üblichen Diskurse ihres Faches geschert, schrieb nicht die zwanzigste Biografie über Thomas Mann, nicht den tausendsten Aufsatz über Kafka, sondern fischt ihre Themen aus dem alltäglichen Leben: Beiläufiges, Übersehenes, Gemiedenes. Da geht es mal um den verführerischen Glanz der Mode und die Anrüchigkeit von Pornografie, ein anderes Mal um unsere täglichen Rituale oder merkwürdigen Überempfindlichkeiten, Idosynkrasien genannt. In diesem Jahr wird sie mit dem Ernst-Robert-Curtius-Preis ausgezeichnet. In der Begründung heißt es, sie verstehe es, wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse in erfrischend klarer Sprache, elegantem Stil und luzider Deutlichkeit einem breiten Publikum zu vermitteln. Themen, die viele Menschen wirklich betreffen, behandle sie „mit gelassener Heiterkeit und hohem Einfühlungsvermögen“.

Spießige Apo

Aufgewachsen ist Silvia Bovenschen in der bürgerlichen Mitte der Nachkriegszeit in Frankfurt am Main. Der Vater war Direktor einer Aktiengesellschaft, man hatte eine Putzfrau, eine liberale Haltung und ein reiches Kulturleben: Literatur, Theater, klassische Musik. Kurzum: „Eine privilegierte Jugend.“ Aber eine mit Höhen und Tiefen. An der Seite des Onkels erlebte sie Gustaf Gründgens im „Faust“ und war überwältigt, nur dass ihr Begleiter so laut atmete, verdross sie – „dabei atmete er vermutlich ganz normal“. Mit dem Vater besuchte sie in den Fünfzigerjahren die Bayreuther Festspiele. Der Flug dorthin und die weitere Anreise waren aber zu viel für den Backfisch: Silvia erbrach sich. Überhaupt sei sie „so präpotent“ gewesen, mit 16 oder 17, da habe sie ihre Eltern einmal richtig fertig gemacht, wegen der schlechten Gemälde in der Wohnung. Heute im Rückblick tut ihr das leid, denn: „Sie hatten wenigstens Bilder!“

Schauspielerin wollte Silvia Bovenschen werden, stattdessen blieb sie in Frankfurt hängen und studierte Germanistik, vor allem aber Philosophie und Soziologie. Denn damals, 1966, waren Adorno und Horkheimer die Stars der Uni. Nicht nur Studenten strömten in die Vorlesungen, um von der „Kritischen Theorie“ zu hören. Bovenschen verstand zunächst kein Wort, und auch in die Studentenbewegung „rutschte ich einfach so rein“. Über den Adorno-Schüler Hans-Jürgen Krahl, der einen Arbeitskreis über Hölderlin leitete, kam Bovenschen in eine Versammlung des SDS, des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, einer Abspaltung der SPD: „Das fand ich damals eher putzig, ja spießig, es gab doch tatsächlich Mitgliederausweise.“ Nein, die hübsche linke Bildungsbürgerliche taugte nicht für den lauten Aktionismus, mit dem radikale Kommilitonen selbst vor dem Einsatz entblößter Busen nicht zurückschreckten, um den Unibetrieb aufzumischen und schließlich lahmzulegen.

Schon damals wählte Silvia Bovenschen die Rolle einer Beobachterin – vielleicht entspräche das am ehesten ihrem Standort im Leben, überlegt sie: „Dazuzugehören und doch nicht ganz.“ Die Studentin gehörte jedenfalls weder zum inneren Kreis um Adorno noch zu jenen, die den Übervater posthum vom Sockel stoßen wollten. Auch mag sie keine neuen Anekdoten über ihn verbreiten, nur diese: „Wie Adorno das erste Mal in den völlig überfüllten Hörsaal kam, meinte er gleich zu uns: Mit Philosophie, da können Sie nichts werden! Und wir waren alle auch noch stolz darauf.“ Bovenschen schüttelt den Kopf: „Was für eine dumme Hybris! Im Gegensatz zu heutigen Philosophiestudenten, die keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, ist aus uns allen ja noch irgendetwas geworden.“

Mit der Dissertation „Die imaginierte Weiblichkeit“ gelang ihr mit 32 ein großer Wurf. Die darin entwickelte Forderung nach Emanzipation bei gleichzeitigem Beharren auf der Differenz zwischen den Geschlechtern war damals unerreicht, denn die feministische Literaturtheorie steckte hierzulande noch in den Kinderschuhen. 1979 in der renommierten Edition Suhrkamp erschienen, wurde das viel gelobte Werk kürzlich neu aufgelegt. Doch für nicht geringe Teile der Frauenbewegung war Bovenschen zu verkopft. Dem Betroffenheitskult der Siebzigerjahre wich sie aus, er war ihr „peinlich“, ebenso die vorgezeigte Symbolik eines frauenbewegten Lebens, „die Farbe Lila, das Gehäkelte und manches mehr“. Lieber orientierte sie sich an der intellektuellen Variante des Feminismus, an Elfriede Jelinek, Ginka Steinwachs oder der Künstlerin Meret Oppenheim – sie alle schrieben damals, wie auch Bovenschen, in der radikalen Frauenzeitschrift „Die schwarze Botin“. Die Studentin, deren Attraktivität manchem Mann den Kopf verdreht haben soll, bemühte sich von Beginn an, jeder Ideologisierung zu trotzen. „Das ist das, was ich auch am ehesten von Adorno mitgenommen habe. Wie kann man eine Theorie, ein Schreiben gegen jede Dogmatisierung immunisieren.“ Es folgten Jahre in Forschung und Lehre. Ende der Neunzigerjahre verließ Silvia Bovenschen die Universität, um als freie Publizistin ihren Stilwillen als Essayistin weiter zu schärfen.

Ihr Buch „Älter werden“ ist anders als die vorherigen. Sie hat die ihr gewohnte Essayform aufgegeben, wählt die Ich-Perspektive und wird ungeschützt subjektiv. Auch schreibt sie zum ersten Mal über ihre schwere Krankheit. Bereits mit Mitte 20 erfuhr Silvia Bovenschen von der Diagnose Multiple Sklerose. „Infolge der körperlichen Einschränkungen, die ich durch meine Krankheit erleide, habe ich schon früh Erfahrungen gemacht, die etwa deckungsgleich mit den Erfahrungen ältere Freunde sind, die ganz normal altern. Das gab mir eine zusätzliche Eignung für mein Thema.“ Die 60-Jährige sagt das ohne Zynismus. Der Leser erfährt, wie sie jeden Monat für drei Tage ins Krankenhaus muss, wie sie mit dem „roten Spielmobil“ durch Charlottenburg fährt und dabei jedes Mal neugierige Kinder anzieht. Doch die Denkerin des eigenen Alltags bleibt auch hier streng bei der Sache. Die Krankheit taucht in dem Buch nur dort auf, wo die Auseinandersetzung damit Erhellendes über das Älterwerden an sich abwirft. Trotzdem, so erzählt Silvia Bovenschen, geriet sie später ins Grübeln. „Wenn das jemand liest, stellt der sich nicht eine fürchterlich depressive, marode Person vor? Deshalb wollte ich im Buch ein Bild haben, das mich lachend im Rollstuhl zeigt.“

In natura sieht Silvia Bovenschen zierlicher und jünger aus. Dunkles Jackett und grauer Pullover mit V-Ausschnitt geben eine lockere Eleganz. Ihre Bewegungsfähigkeit mag eingeschränkt sein, aber ihren Geist hat das womöglich nur umso mehr geschärft, wie auch bei dem buckligen Physiker und Philosophen Lichtenberg, auf den sich Bovenschen immer wieder beruft. „Klar, eine Versöhnung mit so einer Krankheit gibt es nicht. Sie ist mein Feind, ist in mir und Teil von mir. Auch kann ich nicht wissen, in welche Zustände sie mich noch bringt, aber noch habe ich genug Freude am Leben. Gemessen an dem, wie es mir gehen könnte, geht es mir gut.“ Dann sagt sie mit Nachdruck: „Wenn sich die Krankheit nicht zu Wort meldet, wie jetzt, möchte ich auch nicht daran denken müssen.“

Wenn es ums Schreiben geht, ist Silvia Bovenschen ganz bei sich. Sie zündet sich eine Zigarette an, legt eine helle Strähne ihrer halblangen Haare zurück und kommt in Fahrt. „Bei jedem Text, egal um was geht, muss am Anfang doch eine Entzündung sein, eine Begeisterung, eine Passion – finden Sie nicht auch? Und wenn man sich auch nur über eine These ärgert, die gerade im Anlauf ist…“ Kritiker schätzen an Silvias Bovenschens Büchern die Mischung aus Intelligenz und stilistischer Eleganz. „Das Müssen, Sollen, Gebieten ist in ihren Sätzen abwesend“, lobt Elisabeth von Thadden, und Arno Widmann sieht in ihren Texten bestätigt, „dass Denken noch schöner sein kann als Schlittschuhlaufen“.

Silvia Bovenschen hört die Komplimente, vergisst aber nicht zu erwähnen, dass sie mit Widmann befreundet ist. Wer ihr gegenübersitzt, möchte fast glauben, dass Klugheit vor Eitelkeit schützt. „Von allen Menschen“, sagt sie, „muss man sich selbst am meisten misstrauen; deshalb versuche ich auch, mir beim Schreiben permanent selbst den Teppich wieder unter den Füßen wegzuziehen.“

Tatsächlich folgt in ihren Texten auf jedes Urteil ein gegenläufiges oder eine Relativierung. Bloß kein Dogmatismus, aber auch keine Haltungslosigkeit. Die Diskussion um die TV-Moderatorin Eva Herman, die zur Rückkehr zur traditionellen Weiblichkeit auffordert, verfolgte sie mit Abscheu. Dass dem in den Feuilletons so viel Aufmerksamkeit zukam, hält sie für erbärmlich: „Die ganze feministische Theoriebildung kann man finden, wie man will, aber die war nie auf diesem niedrigen Niveau.“

Weibliche Boheme

Im Literatur- und Medienbetrieb war und ist Silvia Bovenschen nie durchgehend präsent, doch tauchte sie immer wieder an exponierter Stelle auf, so etwa 1998, als sie drei Jahre in Folge Jurorin in Klagenfurt war. Als dort einmal Thomas Meinecke las und sie den Romanauszug lobte, gestand er: „Da bin ich aber erleichtert, denn Sie kommen in dem Roman auch vor.“ Thomas Meinecke ist nicht der einzige jüngere Autor, den Bovenschen schätzt und mit dem sie in Kontakt steht.

Seit einigen Jahren schon lebt Silvia Bovenschen mit der Malerin Sarah Schumann in Berlin-Charlottenburg. Eine „Taz“-Journalistin beschrieb die Wohnung der beiden kürzlich als Beispiel großstädtischer, weiblicher Boheme. Tatsächlich herrscht hier eine sympathische Mixtur aus traditioneller Behaglichkeit, lässiger Moderne und Mut zur Leere. Antiquitäten und Sofas, die wie bildungsbürgerliche Reminiszenzen an der Wand stehen, aber auch zeitgenössisches Inventar: ein lang gezogener kühler Tresen, ein hellblauer Kühlschrank in der Ecke. Die Kaffeetassen sind schmucklose Humpen, doch drei großformatige Gemälde lassen aufsehen.

Darunter ist auch ein Bild, das Sarah Schumann von ihrer Freundin gemalt hat. Die Porträtierte hält einen Hund im Arm, der sich behaglich eingerollt hat, und schaut den Besuchern offen ins Gesicht. Man spürt den zärtlichen Blick der Malerin. Silvia Bovenschen überrascht mit einem ganz anderen Eindruck: „Ich finde das Bild ja ein bisschen unheimlich.“

Jürgen Bräunlein

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