Texter, Journalist und Autor Jürgen Bräunlein

Süß ist das Geheimnis

Transparenz: Alles sehen, alles wissen: Die Enthüllungsgesellschaft verlernt das Staunen.

Rheinischer Merkur vom 27.1.2005

Erst die Aufklärung hat jene in Verruf gebracht, die im Dunklen stehen und lieber nicht gesehen werden wollen, wie es in „Mackie Messer“ heißt. Dort, im Dunklen, lässt sich nämlich prima munkeln und manches mehr anstellen, was so gar nicht geheuer ist. Scheinwerfer beugen vor. Das Licht des Verdachts fällt grell: Lauschangriffe und genetische Fingerabdrücke, Vaterschaftstests und schwarze Konten. Offenlegung von Verborgenem ist der Fetisch, dem die zivilisierte Bürgergesellschaft folgt. Darin sind wir gute Kinder der Aufklärung. Was für Kant & Co noch pathetisch das „Licht der Öffentlichkeit“ war, heißt für uns nüchtern Transparenz. Wer sie nicht richtig zu schätzen weiß, macht sich verdächtig.

Für die moderne, offene Gesellschaft ist Transparenz eine ästhetische, gesellschaftliche und politische Tugend, ja für manche Utopisten der Lockruf in noch bessere Verhältnisse. Norman Fosters durchsichtige Reichstagskuppel aus Glas hob dieses Ideal in den Hauptstadt-Himmel. Alles zu sehen heißt: nichts zu verbergen. So wünschen wir die Demokratie und den Staatsdiener auch. Doch was der in seiner Aktentasche spazieren trägt, können wir beim besten Willen selbst durch die lichtdurchlässige Kuppel nicht erkennen. Deshalb muss er sich der Architektur angleichen und zum „gläsernen“ Abgeordneten werden. Die Inhalte seiner Nebengeschäfte und ihre Entlohnung gehören offen auf den Tisch. So viel Misstrauen muss sein. Die aristokratische Diskretion, niemals über Geldangelegenheiten zu sprechen, kann sich in einer permanent abspeckenden Wohlstandsgesellschaft niemand mehr leisten. Auch die Debatten um die juristische Verwertbarkeit von „heimlichen“ Vaterschaftstests haben – ob das ein Zufall ist? – mit dem Portemonnaie zu tun. Es geht um Alimentezahlungen, die sanieren. Oder auch ruinieren.

Heute vermutet der Bürger überall Zweifelhaftes, das es zu erhellen gilt, und Verstecktes, das zu enthüllen sich lohnt. Überall dort werden dann Chancen gewittert. Aber auch Risiken eingegangen, obwohl das noch nicht allen bewusst ist. Aus dem „süßen Geheimnis“ der Schwangerschaft wird im Handumdrehen ein bitterer Rosenkrieg zwischen Mann und Frau mit kinoreifer Enthüllungsdramatik. Im schlimmsten Fall erfährt der Gatte durch den DNA-Test am Babyspeichel vom heimlichen „Gen-Shoppen“ (Sonja Zekri) seiner Frau. „Den Schleier des Geheimnisses lüften“ heißt das, doch das Sprichwort ist nicht so harmlos, wie es daherkommt. Gesichtern, bei denen wir nur in den Augen lesen können, werden für uns rasch zur Bedrohung. Denn was und welche Gefahren verbergen sich dahinter? Verschleierte Türkinnen oder vermummte Demonstranten sind ein Affront gegen das Transparenzgebot. Das irritiert und ängstigt.

Angriff auf die Intimität

Der Wunsch nach solchen Offenbarungen und Gewissheiten ist übermächtig geworden, er wird nun auch noch bedenkenlos in die Hände von Staat und Legislative gelegt und dann nach Karlsruhe weitergereicht – wenn am Ende nichts dabei herausgekommen sein sollte. Dabei liefern Wissenschaft und Forschung immer neue und bessere Werkzeuge der Preisgabe. Doch sie kommen viel zu früh, wir sind noch gar nicht in der Lage, verantwortungsvoll damit umzugehen. Der genetische Fingerabdruck zieht eine ganze Datenhaut vom Leib. Was bleibt dann noch von uns übrig? Dass sich der Staat auf diese Weise immer mehr in intime Dinge einmischt und in unserer Privatsphäre zu nisten beginnt, scheint heute niemanden mehr zu kümmern. Dabei ist es erst gut 20 Jahre her, dass eine relativ breite Bewegung gegen die Volkszählung rebellierte und dabei Informationen verweigerte, die in ihrer Harmlosigkeit (Einkommen, Wohnungsgröße, Familienstand) heute geradezu lächerlich erscheinen angesichts der Fülle weitaus persönlicherer Daten, die wir tagtäglich beim Surfen im Internet (un)wissentlich hinterlegen.

Als der Begriff „geheim“ im 15. Jahrhundert erstmals auftauchte, war er noch voller positiver Konnotationen: Gemeint war so etwas wie „vertraut“ und „zum Haus gehörig“. Geheimhaltung galt als ehrenwerte Sache, in der Politik sogar als notwendige und weise Strategie des Handelns. Der respektvolle Titel „Geheimer Rat“ zeugt noch davon. Erst die Aufklärung heftete dem Geheimen den Makel des Zwielichtigen an. Alles, was nicht deutlich zu sehen und zu hören war, geriet in Verdacht, der Gemeinschaft zu schaden. Öffentlichmachen wurde zur Pflicht und Öffentlichkeit zum Synonym für den demokratischen Staat. Da stehen wir heute. Und glauben am Ende gar, jede neue Enthüllung sei ein gesellschaftlicher Fortschritt.

Der Schwund an Geheimnissen, wie wir ihn gerade erleben, ist aber wohl eher ein weiteres Symptom für die tief greifende Vertrauenskrise, in der sich unsere Gesellschaft befindet: Mütter und (potenzielle) Väter misstrauen sich, Wähler misstrauen den Politikern, Deutsche den Türken und der Staat seinen Bürgern. „Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist besser.“ Die Mahnung gestrenger Pädagogik zeigt flächendeckend Wirkung. Wohin soll das nur führen? Wollen wir vielleicht jetzt um jeden Preis alles wissen, weil wir damals während des Dritten Reiches zu wenig wussten und auch zu wenig wissen wollten? Doch wer anderen misstraut, vertraut sich selbst nicht. Diese Diagnose fügt sich in die depressive Grundstimmung im Land. Vielleicht sollte man uns Deutschen ein wenig mehr Vertrauensseligkeit verordnen?

Die Annahme, alles Geheimnisvolle sei etwas Wesentliches und Besonderes, hielt der Soziologe Georg Simmel schon vor über 100 Jahren für einen typisch menschlichen Irrtum. „Geheimniskrämerei“ ist schließlich schon für Kinder ein gerne gewähltes Mittel, sich wichtig zu machen. Wie im Märchen um des Kaisers neue Kleider mag sich hinter den Verheißungen nur ein Nichts verbergen. Das scheinbare Geheimnis lenkt dann nur vom Wesentlichen ab. So drängen ja auch Prominente und Wichtigtuer mit ihren Familiengeheimnissen ungefragt in die Öffentlichkeit. Vor allem die „Bild“-Zeitung ist eine auf Hochtouren laufende Enthüllungsmaschinerie von Pseudo-Geheimnissen: „Mosis Chauffeur war Stasi-Agent!“ Oder: „Effe & Frau Strunz: heimliche Hochzeit!“ So geht es Ausgabe für Ausgabe.

Der weitere Irrtum, dem wir unterliegen, ist der Glaube, dass uns ein Mehr an Wissen zwangsläufig zu besserem Handeln verhilft. Dagegen steht eine vorrationale Vernunft, die ahnt, dass letzte Gewissheiten ohnehin unerreichbar sind und dass alles, was wir tun, nicht nur auf Wissen, sondern ebenso auf Täuschungen, Lügen und Irrtümern basiert. Der Verzicht, bestimmte Geheimnisse zu lüften, kann also auch eine lebenskluge Entscheidung sein, die Konfliktmöglichkeiten vermeidet. Dann wäre eine Güterabwägung sinnvoll: Will man lieber mit den bestehenden Ungewissheiten weiterleben, oder riskiert man, an der in Erfahrung gebrachten Wahrheit möglicherweise zu verzweifeln? Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.

„Jede Frau hat ein Geheimnis“, so lautet ja auch eine Feststellung aus präfeministischen Zeiten. Sie ist immer noch gültig, aber auch für Männer. Geheimnisse stehen jedem Individuum gut an und sind nicht nur in intimen Beziehungen ein bewährter Schutz vor banaler Gewöhnung. Auch in Beruf und Alltag machen das Verstecken und Verschweigen bestimmter Persönlichkeitsmerkmale das soziale Miteinander überhaupt erst erträglich. Zeigen und sich verbergen, im Bewusstsein des anderen bleiben, aber sich nie restlos ausliefern, so funktioniert schließlich auch die Aura der Stars. Überhaupt ist die Faszination am Verborgenen eine wesentliche Triebkraft menschlicher Produktivität: Bei der amerikanischen Geheimdienstbehörde National Security Agency sollen mehr als zehntausend Kryptografen und Kryptoanalytiker damit beschäftigt sein, Geheimcodes zu entschlüsseln, aber auch, Geheimcodes neu zu erfinden. Überall haben die Händler des Geheimnisvollen heute Hochkonjunktur. Esoterikliteratur boomt, Tarotkarten und Horoskope erfreuen sich reger Nachfrage, Mystery-Streifen wie „Harry Potter“ und „Herr der Ringe“ begeistern Erwachsene wie Jugendliche. Das Krimigenre gehört zu den erfolgreichsten Sendeformaten im Fernsehen. Und selbst Nachmittags-Talkshows wie „Zwei bei Kallwass“ oder „Geständnis“ funktionieren nach dem Prinzip der schrittweisen Aufdeckung verborgener Motive.

Entzauberung der Welt

Am Geheimnis entzünden sich Neugierde und Phantasie. Doch gerade das Kunstwerk ist keine DNA-Analyse und lässt sich auch deshalb durch fleißige Interpretationen nie restlos ergründen. Es wahrt seine Geheimnisse gegen alle Bestrebungen nach Transparenz und Offenlegung. Auch das Heilige ist nur als Geheimnis vorstellbar. Und es ist kein Zufall, dass, während die Entzauberung unserer Welt nicht zuletzt durch „die Machtergreifung der Gentechnologie“ (Ludger Lütkehaus) immer unbarmherziger voranschreitet, die Sehnsucht nach dem Okkulten gleichzeitig zunimmt. Merkwürdig aber ist, dass die Kirchen nicht stärker von dieser Entwicklung profitieren. Haben sich die geheimnisvollen und ahnungsreichen Bilder des Christentums durch zu häufigen Gebrauch oder durch Gewöhnung zu sehr abgenutzt? Oder sind sie schon dabei, vergessen zu werden? „Wer das Grundgefühl des Geheimnisvollen nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann“, so glaubt Einstein, „der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen.“

Jürgen Bräunlein

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