Texter, Journalist und Autor Jürgen Bräunlein

Peter Pan

Er will alles, nur nicht erwachsen werden. Und das schon seit 100 Jahren.

Berliner Zeitung (Magazin) vom 24.12.2004

Wie aus dem Nichts kommt er ins bieder tapezierte Kinderzimmer der Familie Darling hinein geschneit, macht Wendy, John und Michael mit Feenstaub flugtüchtig und entschwindet mit den Bürgerskindern aus dem spätviktorianischen London hinein ins „Niemalsland“, in dem allein Spaß und Abenteuer regieren. Der Oberspielleiter, gekleidet in ein Gewand aus gerippten Blättern, übertrifft in punkto Kindlichkeit alle anderen: „. das Hinreißendste an ihm war, dass er noch alle seine Milchzähne hatte“. Sobald er aber einem Erwachsenen begegnet, „zeigt er böse die Zähne“. Denn Peter Pan will alles, und zwar sofort, aber bloß nicht erwachsen werden. Und das schon seit mittlerweile 100 Jahren. Denn da wurde er von einem Schotten erfunden.

James Matthew Barrie wurde am 9. Mai 1860 im schottischen Kirriemuir geboren, der Vater war Weber, die Mutter brachte zehn Kinder zur Welt. James war erst sieben Jahre alt, als sein Bruder David, das Lieblingskind der Mutter, beim Schlittschuhlaufen ums Leben kann. Jamie bemühte sich darum, die Stelle des Verstorbenen einzunehmen, zog dessen Kleidung an und lernte unter Anleitung von Davids Schulfreunden sogar, so zu pfeifen wie er. Eine Anverwandlung so tragisch wie nutzlos. Während Jamie erwachsen wurde, begann die Familie den verstorbenen Bruder immer mehr zu idealisieren, als den 13-Jährigen, der er war, bevor er ertrank. Er wurde das Vorbild zu Peter Pan.

James Matthew Barrie verließ seinen Heimatort, studierte in Edinburgh und verfasste Theaterkritiken. Mit 25 Jahren ging er nach London, bettelarm, aber schreibwütig. Seine Texte veränderten sich. Sie sprengten das einengende Korsett der harten Fakten und hoben ins Wunderbare ab: Geschichten über seine schottische Heimat, die in Modezeitschriften abgedruckt wurden und sich später in Buchform außerordentlich gut verkauften. Nachdem seine melodramatische Erzählung „The Little Minister“ (1891) auch auf der Bühne ein Publikumserfolg wurde, verlegte sich Barrie aufs Schauspiel. Mit 40 war er zum Bestsellerautor geworden und zum angesehenen Mitglied der englischen Gesellschaft. Öffentlich witzelte er über Kollegen. „Es ist ja ganz wunderbar, in der Lage zu sein, Bücher zu schreiben“, sagte er zu dem Science Fiction-Autor Herbert George Wells, „aber kannst du auch mit den Ohren wackeln?“ Als ein anderer Freund sich darüber wunderte, dass Barrie im Lokal fast immer Rosenkohl (Brussels sprouts) bestellte, soll er geantwortet haben: „Ich kann nicht widerstehen, ihn zu bestellen. Die Silben sind so schön auszusprechen.“

Nur Barries Privatleben wurde zum Desaster. Die Verbindung mit der Schauspielerin Mary Ansell scheiterte. Mary betrog ihn, die Ehe blieb kinderlos. Janet Dunbar, die 1970 eine Biografie über Barrie schrieb, nennt den Grund: der Erfinder von Peter Pan war impotent. „Jungen können nicht lieben“, erklärte Barrie und ließ offen, ob er sich selbst damit meinte. Peter Pan jedenfalls weiß nicht einmal, was ein Kuss ist.

Barrie freundete sich mit den Kindern anderer Ehepaare an. Besonders nahe stand er den fünf Söhnen von Arthur und Sylvia Llewelyn Davies: Michael, Peter, George, Jack und Nico, die er beim Spazierengehen im Kensington Park kennen lernte. Die Jungen fühlten sich von dem Schotten, der gerade einen Meter fünfzig groß war, angezogen, „weil er eine Augenbraue hochziehen konnte, während er gleichzeitig die andere senkte.“ Er erzählte aus dem Stegreif von einem Jungen, der in den Bäumen wohnt und mit Feen spricht. Die Kinder wiederholten das Gehörte auf ihre Weise: „Am Ende konnte niemand mehr sagen, ob es mehr ihre oder eher meine Geschichte ist.“

Der leibliche Vater beobachtete die Zusammenkünfte nicht ohne Ressentiments. Als beide Elternteile in nur kurzer Zeit nacheinander starben, adoptierte Barrie die fünf Waisen und schrieb für sie den Peter-Pan Mythos fort. Allein schon die Schar der „verlorenen Jungen“, im „Niemalsland“ musste ihnen wie ein verzerrtes Spiegelbild der eigenen Realität vorgekommen sein. Zu seinen Adoptivsöhnen sagte Barrie später: „Ich machte Peter, indem ich euch fünf leidenschaftlich aneinander rieb, so wie Wilde aus zwei Stücken Holz eine Flamme entfachen. Das ist alles, was Peter Pan  ist: der Funke, den ich von Euch bekommen habe.“

Am 27. Dezember 1904 betrat Peter Pan dann erstmals die Bühne – nachdem Barrie ihn in seinem Roman „The little white Bird“ zwei Jahre zuvor schon kurz erwähnt hatte. Uraufgeführt wurde am Duke of York’s Theater in London „Peter pan or the boy who would not grow up“ als Weihnachtsspiel für Kinder. Ein Triumph. Peter wurde von einem Mädchen gespielt, eine Tradition, die bis weit in die Gegenwart hinein bestehen blieb. Das fünfaktige Bühnenstück unterschied sich erheblich von den traditionellen viktorianischen „Christmas-Pantomimes“: revueartige, teilweise vulgäre Spektakel, die sich wenig um kindliche Vorstellungswelten scherten. Das Revolutionäre an Barries Konzept war: die Traumwelt, die im Stück entfaltet wird, ist allein den Kindern zugeordnet: „Kinder, die aus ihrem Wagen fallen, wenn das Kindermädchen nicht hinsieht, werden, falls man sie binnen einer Woche nicht zurückverlangt, weit fort ins Niemalsland geschickt.“ Und das ist exklusiv für Kinder reserviert, weil Erwachsene, durch die Härten einer rationalen Lebensführung desensibilisiert, gar nicht mehr in der Lage sind, dieses Reich wahrzunehmen.

Barries „Niemalsland“ ist ein postmodernes Sammelsurium von Figuren, wie sie in Sagen, klassischen Jugendbüchern und Serienheftchen zu finden sind. Die herumschwirrenden Feen sind typisches Märcheninventar, der einarmige Kapitän Hook kommt direkt von Stevensons Schatzinsel, und die Rothäute erinnern an Lederstrumpf. Peter in seinem vorzivilisatorischen Blättergewand ist ein poetischer Wiedergänger des Hirtengottes Pan. Mit verblüffender Einfühlung in die kindliche Phantasie beschwört Barrie eine Welt, in der Wunsch- und Alpträume Gestalt annehmen, aber kein Blut fließt. Mittendrin wird der Generationskonflikt comichaft ausgetragen: Peter Pan und Kapitän Hook, der einzige Erwachsene, duellieren sich. Peter siegt und bleibt auch weiterhin nicht integrierbar: „Alle Kinder außer einem werden erwachsen …“ So ist Peter Pan der radikalste aller kindlichen Verweigerer in der Literatur, wenn man vom „Suppenkaspar“ absieht, der sich zum Entsetzen der Mutter tot hungert. Pippi Langstrumpf beharrt zwar auch mit anarchistischer Euphorie auf kindlichen Freiheiten, aber immer noch reibt sie sich an der Erwachsenenwelt, der sie ein unkonventionelles Leben abtrotzt. Peter Pan hat sich dieser Reibung entzogen. Barrie schenkte ihm einen Spielkosmos, in dem er ungebändigt kreisen darf, ohne Schaden zu nehmen.

Der überwältigende Erfolg von „Peter Pan“, der bald Nordamerika und Europa erfasste, und vor allem mit der Buchfassung von 1911 einen Schub erfuhr, war ein deutliches Symptom dafür, dass die Gesellschaft endlich bereit war, „Kindheit“ als eigenen Lebensabschnitt ernst zu nehmen. Dieser Gedanke hatte damals noch keine lange Tradition. Erst die Aufklärung, allen voran Rousseau, brachte ein neues Verständnis von Kindheit in den gesellschaftlichen Diskurs ein: Den Kindern gehört eine eigene Welt, in der Erwachsene nichts verloren haben. Die Fiktion „Peter Pan“ war ein kongenialer Ausdruck dafür, und glänzend auf der Höhe der Zeit. Kurz zuvor war das Hauptwerk der schwedischen Pädagogin Ellen Key erschienen: „Das Jahrhundert des Kindes“.

„Peter Pan“ blieb das einzige Buch, mit dem Barrie internationale Bedeutung erlangte, alle anderen seiner Werke sind heute vergessen. Die Idee, Peter Pan als Erwachsenen wieder auferstehen zu lassen, scheiterte. Vielleicht deshalb, weil Barrie, der selten lächelte und an Migräne litt, selbst nicht erwachsen werden wollte. Noch im hohen Alter soll er mit dem Sohn seiner Sekretärin Peter Pan und Kapitän Hook gespielt haben.

Peter Pan ist bis heute Kult – über alle Generationen hinweg. Walt Disney hat 1952 daraus einen Zeichentrickfilm gemacht, Steven Spielberg in „Hook“ einen gealterten Peter ins „Niemalsland“ geschickt und Leander Hausmann in Bochum eine Theateradaption versucht. Michael Jackson wiederum inszeniert sich seit Jahren schon als schräges Abbild von Peter Pan, bis hin zum Namen seines Domizils: „Neverland“-Ranch. Und Psychologen haben mit dem „Peter-Pan-Syndrom“ den männlichen Neurotiker der Wohlstandsgesellschaft ausgemacht: Die Unfähigkeit, Konflikte auszutragen und Bindungen einzugehen, die kindliche Weigerung, Verantwortung zu übernehmen. Längst ist die Diagnose auf die ganze Gesellschaft ausgedehnt worden. Von einer schleichenden Infantilisierung ist die Rede, ein Gemeinplatz spätestens seit den 90er-Jahren. Alte wollen wieder jung sein, und die Jungen das Alter herausschieben. Kindsein ist gut, Erwachsensein schrecklich. Solche simplen Polarisierungen aber hatte Barrie niemals im Sinn. Peter Pan  und Hook sind sich viel näher, als man zunächst glaubt: Beide sind sozial weitgehend isoliert, lieben das Rollenspiel und neigen dazu, andere zu unterdrücken. „Nur die Fröhlichen, Unschuldigen und Herzlosen können fliegen“, heißt es über Peter Pan. Utopie und Neurose liegen eben dicht beieinander.

In der Buchfassung von „Peter Pan“ kann sich der Erzähler dann auch nicht so recht entscheiden, wie ernst er das Wunderbare, von dem er da berichtet, nehmen soll. Er wird dann ironisch. Diese schwankende Haltung zwischen pathetischer Einfühlung und plötzlicher Durchbrechung der Illusion ist nicht nur amüsant zu lesen, sie ist auch eine Haltung zum Leben überhaupt, die viel mit Freiheit und nichts mit Dogmatismus zu tun hat. Der Mythos von Peter Pan erzählt vielleicht am ehesten davon, wie sich die Welt der Kinder und die Welt der Erwachsenen immer wieder wechselseitig durchdringen. Und er erzählt von dem großen Glück, das darin besteht, an beiden dieser Welten teilnehmen zu können. James Matthew Barrie, der am 3. Juni 1937 hoch geehrt und mittlerweile zum Baron ernannt im Alter von 77 Jahren starb, ist das in seinem Buch auch selbst gelungen.

Jürgen Bräunlein

> Zurück