Texter, Journalist und Autor Jürgen Bräunlein

Sammeln macht doof

(Vortrag anlässlich der Ausstellung von Andrea Theis: „Stapelverarbeitung“ 16.4.2004, Otto-Nagel-Galerie Berlin)

Zu leben, ohne etwas zu besitzen, ist unmöglich. Und es wird immer unmöglicher. Vor gut 100 Jahren verfügte ein bürgerlicher Haushalt im Durchschnitt noch über ein paar hundert Gegenstände. Heute sind es zigtausende. Dem Sammelwütigen genügt das nicht. Er hortet weiter. Häuft an, stapelt, sichtet, ordnet. Häuft an, stapelt und sichtet wieder. Dabei glänzen seine Augen vor Sammelglück.

Art Deco Lampen, Aktfotos, Bierdeckel, Blütenstaub, Christbaumschmuck, Druckgrafiken, Edelsteine

Jede Zeit hat ihre Krankheiten, jede Zeit ihre Sammelmoden. Gesammelt wurde immer, aber jedes Mal anders. Vor der Renaissance: alles scheinbar Kostbare und Wertvolle. Ab der Renaissance: sehr wahllos, alles was seltsam war. Mit den Anfängen modernen wissenschaftlichen Denkens begann das Sammeln mit System. Und: in Systemen. Der Sammler, bis dato heißblütig und unberechenbar, wurde zum Buchhalter und Archivar: penibel, pedantisch, kühl. Hilfe! Heute ist Sammeln ein Breitensport. Der Trieb ging im Volk auf wie Hefe im Kuchen. Das heißt Demokratie. Mit der Einführung kostengünstiger Massenproduktion konnte jeder irgendetwas sammeln. Auch wenn es nur Milchflaschendeckel sind.

Fahrradschläuche, Gipsabdrücke, Glasaugen, Hutschachteln, Insekten, Joghurtbecher

Sammler sind so verschroben wie die Früchte ihrer Beutezüge seltsam. Ein Computerfreak sammelt CDs mit überholten AOL-Versionen und bindet die ausrangierten Datenträger zu wurstartigen Schläuchen. Ein aufrechter Buddhist sammelt Schweinefiguren. Seine Vorfahren waren Metzger. Der Mann will seine karmische Schuld abtragen.

Oder Peter der Große, der russische Zar. In seiner berühmten Kunstkammer sammelte er nicht nur ausgestopfte Tiere und Knochengerippe. Sondern ebenso Zwerge und Missgebildete als lebendige Sammelstücke. Darunter auch einen echten Hermaphroditen. Der bekam für seine Anwesenheit 20 Rubel im Jahr. Er ertrug es aber nicht, andauernd begafft zu werden. Er suchte das Weite und floh.

Jerry-Cotton-Hefte, Korsettstangen, Landkarten, Meerschaumpfeifen, Miniatureulen, Napfkuchenformen

Der Allesammler ist gefräßig. Nichts ist vor ihm sicher. Er ist ein Sicherheitsrisiko. Denn wer für alles offen ist, kann nicht ganz dicht sein. Er wird depressiv. Der Alles-Sammler ist anfällig für Sonderangebote. Er kauft unentwegt Gegenstände, die er nicht braucht. Er gibt viel Geld aus für Regale, Koffer, Schränke, Kisten. Ist dauernd beschäftigt mit An- und Ausbauten im Haus. Auch das verschlingt Zeit. Beruflich stecken Alles-Sammler deshalb meistens in schlecht bezahlten Positionen. Dabei haben sie wenig Gelegenheit sich auszutauschen. In ihrer Wohnung ist kein Platz mehr für Begegnungen mit anderen. Und alle Angehörigen sind auch schon geflüchtet.

Nadelkissen, Nasenringe, Orientteppiche, Porzellanpuppen, Plastikenten, Quartettspiele

Der Sammler ist einsam, aber er glaubt zu wissen, dass seine Sammelstücke leben. Die Wahrheit ist: Sie wuchern. Umströmt von Moderdüften. Ionesco, der französische Dramatiker des Absurden, hat das Stück dazu geschrieben.Ein Mieter zieht in eine völlig leere Wohnung. Zwei Möbelträger kommen und stellen nach und nach Möbelstücke hinein. Bald sind alle Böden mit Gerümpel bedeckt, Fenster und Türen zugestellt. Immer enger wird der Lebensraum des Mieters, der von seinem Hausrat förmlich erdrückt wird. Der Mann erstickt.

Reklameschilder, Reclamheftchen, Salz- und Pfefferstreuer, Schneckenhäuser, Schneekugeln, Tierzähne

Sammeln geht durch Mark und Knochen. Wie Frauchen und Herrchen ihren Hunden immer ähnlicher werden, so ähneln Sammler immer mehr den Gegenständen, denen sie hinterher jagen und die sie dann um sich scharen. Der finnische Fotokünstler Veli Granö hat das bewiesen

Heimtückisch ließ er Sammler inmitten ihrer Objekte posieren. Und siehe da: Der sitzende Pfeifensammler auf dem Bild wirkt selbst wie eines seiner Sammelstücke. Sein Körper ist schwungvoll gebogen, in der Bewegung aber erstarrt, genau so wie die Tabakspfeifen an den Wänden. Auch der Mann mit dem Bierdosentick scheint auf dem Bild restlos mit seiner Sammlung verwachsen. Er wirkt wie ein weiteres, nur viel zu großes Exemplar in diesem Universum aus Blechbüchsen.
Vielleicht ahnen zwanghafte Sammler ja auch, dass sie sammelnd nie ans Ende kommen, weil das wichtigste Sammelstück immer fehlen wird und sie deshalb sich selbst in die Sammlung einfügen. Als das letzte fehlende Puzzleteil. Sammlungen liegen verschlossen im Safe, versteckt in Schubladen, eingeklemmt in Alben. Wenn man Glück hat, darf man sie wenigstens in Vitrinen bestaunen. Berühren darf man sie in der Regel ja nicht. Sammlungen sind nutzlos und nutzlos dämmern sie einer ungewissen Zukunft entgegen. Im Erbstreit werden sie auseinander gerissen oder – was meistens der Fall ist – bei der Auflösung der Wohnung gleich mit verramscht. Beim Sammeln geht es eben um alles mögliche, aber nicht um die gesammelten Gegenstände. Um was geht es?

Zumindest manchmal um Sex. Denken Sie an jenen Satz, den man hoffentlich auch schon einmal zu Ihnen gesagt hat: „SolI ich Dir meine Briefmarkensammlung zeigen?“

Uhren, Votivbilder, Verkehrsschilder, Weinkorken, Zinnsoldaten, Zeitungen

Ja. Man kann auch Zeitungen sammeln. In einem Roman von Margaret Atwood, der um 1850 spielt, heißt es: „Die Frau des Gouverneurs schneidet Verbrechen aus der Zeitung aus. Das ist ihre Sammlung.“ Sie ist eine Lady und muß etwas sammeln.
Die Zeitungsstapel im Gläsernen Windfang der Otto-Nagel-Galerie sind keine Sammlung im strengen Sinn. Sie befinden sich noch im Zustand roher Anhäufung. Es sind die ungelesenen Privatexemplare der Kölner Künstlerin Andrea Theis. Zeitungen sind wie Speisekarten. Man wählt aus, kann niemals alle Menüs essen. Aber alles was man isst, muss man verdauen. Der Abbau der Zeitungsstapel aus Köln ist die Auswahl von Nachrichten. Ihr Verzehr und ihre Ausscheidung. Eine Art mentale Diät. Die Künstlerin möchte sich erleichtern. Dass sie diesen Verdauungsprozess öffentlich vorführt – in Echtzeit sogar, erinnert an
Jahrmarktattraktionen im ausgehenden 19. Jahrhundert.

Da gab es nämlich nicht nur Zweimeter-Männer und Feuerschlucker, Frauen mit Bärten und Siamesische Zwillinge zu bestaunen, sondern auch Hungerkünstler. Franz Kafka, ein Dichter übrigens mit lebenslangen Verdauungsstörungen, hat ihnen ein literarisches Denkmal gesetzt. Tatsächlich breitete sich das Schauhungern zwei Jahrzehnte lang in ganz Europa aus. Die Menschen – Fernsehen gab es ja noch nicht – waren begeistert. Vor allem Männer, bewundert wie Stars, hockten eingesperrt in Glaskästen – so wie jetzt Andrea Theis – und konzentrierten sich vor allem auf eines: aufkommende Hungergefühle zu unterdrücken. Daneben mussten die Hungerkünstler aber auch ein wenig zur Unterhaltung des Publikums beitragen. So posierten sie, machten Gymnastik, lasen aus Büchern vor, sprachen mit dem Publikum.

Schwer zu sagen, welche Seite des Spektakels bizarrer war: der Hungernde, der Eintritt verlangte und beruflich zumeist gescheitert war, oder die Zuschauer, die das Nicht-Essen als Kunstform begafften.
Im Jahre 1905 kam es dann auch auf dem Münchner Oktoberfest zu einem bemerkenswerten Zwischenfall.

Ein Hungerkünstler, der in einem Bierzelt fastete, ging den Gästen, die da ihre Schweinshaxen verzehrten, so auf den Zeiger, dass sie die Nerven verloren. Sie stürmten den Glaskasten, zerrten den Hungerkünstler heraus. Sie verschleppten den Ausgemergelten in eine nahe gelegene Bäckerei und stopften ihn mit Kuchen und Torten.

Möge Andrea Theis vor einem vergleichbaren kollektiven Angriff verschont bleiben!

Jürgen Bräunlein

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