Texter, Journalist und Autor Jürgen Bräunlein

Illusion, Imagination, Stimulation –
Zur Ästhetik des Telefonierens

(Vortrag anläßlich der Ausstellung: Mensch Telefon/ Museum für Kommunikation Nürnberg, 13.3.2003)

Der Japaner ist pflichtbewußt und eifrig bei der Arbeit. Heißt es. Stets ist er akurat gekleidet und ordentlich sowieso. Nie läßt er etwas liegen. Irrtum! In den Fundbüros von Tokio lagern Handys zu Hunderten und warten auf ihren Besitzer. Telefone ein Wegwerfartikel wie Rasierklingen? Eine Alltagslast, der man sich am liebsten schnell entledigt?

Telefonieren ist heute banal und trivial. In Deutschland ebenso wie in Japan. Und so selbstverständlich, daß selbst Kinder, lange bevor sie ihre Schnürsenkel binden können, schon ein Handy perfekt bedienen.  Trotzdem: Lassen Sie mich einmal für die drei modernen Zaubermaschinen Bilder in den Raum stellen: Pantoffelkino, Datenautobahn, heißer Draht.

Weder fürs Fernsehen noch fürs Internet gibt es so magische Deutungen wie für das Telefon. Technik wird hier geadelt durch Aufschwünge ins Poetische: Ein Draht, der heiß läuft. Ein Knochen, der zu uns spricht. Letzteres übrigens eine Umschreibung, die von Kindern erfunden wurde.

Bei all diesen Bildern schwingt Bewunderung mit und eine ordentliche Portion Unglauben. Ein Unglauben, den uns auch die moderne Physik nicht ausreden kann. Das hat seinen Grund.

Wer zum Telefonhörer greift, ist ein bißchen wie in der Welt von Harry Potter: Mit gesundem Menschenverstand allein kann man da nicht bestehen. So haben die ersten Telefonbenutzer noch in die Hörmuschel gebrüllt. Wußten sie doch, wie weit ihr Gesprächspartner tatsächlich von ihnen entfernt war. Ähnlich vernünftig verhielten sich Untergebene, die mit ihren Vorgesetzten telefonierten und dabei ihren Rücken krümmten. Nur hatten sie nichts davon. Außer, daß sie sich lächerlich machten.

Eine Stimme ohne Körper, ist eben ein Ding der Unmöglichkeit. Eigentlich. Zumindest aber eine Erfahrung, die nicht so recht zu fassen ist. Mag man uns auch noch so genau erklären, wie Informationseinheiten digital verarbeitet und schnell weiter geleitet werden. Merkwürdig bleibt es. Steht doch nichts so sehr für die menschliche Identität wie die Stimme. Wie kann sie losgelöst vom Körper existieren? Es ist eine absurde Erfahrung.

Am 21. Juli 1969 telefonierten zwei Männer miteinander, und die Welt hielt den Atem an. Der amerikanische Präsident sprach mit Neil Armstrong. Und der spazierte gerade auf dem Mond herum.

Paradox ist das Bild, das wir als Telefonierende abgeben. Mit unseren Füßen stehen wir auf verläßlichem Boden – in einem Großraumbüro in Nürnberg vielleicht oder eben auf dem Mondkrater – doch gleichzeitig sprechen und hören wir in eine imaginäre Ferne. Hier betreten wir einen zweiten, einen rein akustischen Raum. Örtlich beschreiben können wir ihn nicht und atmosphärisch nur sehr vage: Knistern und Stimmen. Dazwischen immer wieder Stille. Es ist die frei geschaltete Leitung. Doch es bleibt ein magischer Kanal: Denn bei unserem Gesprächspartner leibhaftig ankommen, das können wir nicht. Nur die Stimme geht auf die Reise. Der Körper bleibt zurück.

Selbst unser armes Gehör, eigentlich für die Symmetrie geschaffen, leidet am Telefon. An Selbstentfremdung. Es wird halbiert. Das rechte Ohr hört etwas anderes als das linke. Zwei Ohren, zwei Welten. Das muß doch zur Desorientierung führen. Oder zur Erkenntnis.

Dazu ein Beispiel. Ein Akademiker, der – wie viele Akademiker früher oder später – in eine Existenzkrise gerät, betrügt seine Frau. Mit einer Telefonstimme. Doch nicht einmal dieser kleine Betrug wird ihm vorbehaltlos gegönnt. Diesem Pädagogikprofessor namens Elsheimer, Hauptfigur in der Novelle „Die Sirene“ von Dieter Wellershoff.  Nach Mitternacht schleicht sich Elsheimer aus dem gemeinsamen Ehebett, hin zum Hörer. Seiner Tele-Geliebten läßt er wissen: „Aber ich muß auf einem Ohr lauschen. Ich lege sofort auf, wenn ich etwas höre“

Weder wirklich hier, noch wirklich dort. Gewissermaßen dazwischen. Ein akustisches Niemandsland. Hier lebt, wer telefoniert. Die Stimme des anderen ist da, doch der Rest ist zweifelhaft: Hört mir mein Gesprächspartner auch wirklich zu? Oder beschäftigt er sich vielleicht noch mit ganz anderen Dingen?

Nun ja, wer von ihnen hat noch nie am Telefon die Augen verdreht? Beim gelangweilten Zuhören Ornamente auf den Notizblock gemalt? Oder gar einen Einkaufszettel geschrieben?

Wunderbar grotesk ist jene Szene aus dem amerikanischen Episodenfilm „Short Cuts“, in der eine nachlässig gestylte, völlig überforderte Hausfrau ihr quengelndes Baby hütet, Küchenarbeit verrichtet und Hemden bügelt. Und nebenbei ein paar Dollars dazu verdient. Sie macht Telefonsex. Und zwar ziemlich professionell, wie man hören kann.

Ich kann nur wissen, was ich höre. Am Telefon. Und das kann sehr wenig sein und sich schleppend hinziehen, bei Menschen, die von Natur aus wortkarg sind und mit Silben geizen. Und dann funken bisweilen auch noch die Tücken der Technik dazwischen: Stimmen gehen im Rauschen unter, Akkus leeren sich oder man landet kommunikativ ausgebremst in einer Warteschleife.

Sie sehen: Das Gespräch übers Telefon hat also von Anfang an beides: Zerbrechlichkeit und Fragwürdigkeit. Aber auch Mehrdeutigkeit und Poesie. Dem Pädagogen geht es um die Wahrheit in der Verständigung, um Konsens und Eindeutigkeit. Den Ästheten interessieren das Mysterium der Stimme, die Zwischentöne und die Phantasien, die sich in der visuellen Leere entzünden. Das Unerwartete also.

Zu telefonieren ist verlockend, aber eben auch riskant. Ein kommunikatives Wagnis. Schon gleich zu Beginn. Denn wer anruft, greift in die Situation des anderen ein. Er ist ein Angreifer. Oft genug kommt der Anruf so gelegen wie die Zeugen Jehowas, die morgens vor der Tür stehen. Die Geste des Telefonierens, wie der Philosoph Vilém Flusser den Gebrauch des Mediums mit freundlichem Respekt nennt, verlangt also Fingerspitzengefühl.

Nur in Ausnahmefällen ist der von uns Begehrte mit nichts anderem beschäftigt, als auf unseren Anruf zu warten. Leider. Denn wer anruft, möchte willkommen sein und könnte doch stören. Deshalb darf man am Telefon auch manchmal eine lange Nase machen. Ein bißchen heucheln und ein wenig lügen.

„Lächeln Sie am Telefon, es überträgt sich auf Ihre Stimmung und Stimme. Lächeln kann man hören!“ heißt es in einem Fibel „Professionelles Telefonieren“. Also, meine Damen und Herren, stets nur mit gezücktem Handspiegel telefonieren! Das ist Küchenpsychologie. Und trotzdem: Bald gibt es hierzulande mehr Handys als Einwohner.

Doch wer hilft ihren Trägern? Die Rechtschreibreform war unnötig, nötig aber wäre eine Handyknigge. Denn an welchen Orten darf ich mit meinem Handy in der Hand fernsprechen ? Im Zug und in der Fußgängerzone? Ja. Auf der Kirchenbank und im Theaterparkett? Nein! Im Auto? Ja, das heißt seit 1. April nur noch wenn der Wagen steht oder mit Freisprechanlage. Im Sprechzimmer beim Arzt? Hmm. Da kommt man schon ins Grübeln. Und im Restaurant und an der Kuchentheke? Ja…? Oder doch ….nein?

Mit den Handys fließt ein Schwall privater Reden in den öffentlichen Raum. Wie viel die Gesellschaft davon verträgt, ist noch nicht ausgemacht. Wann und wie telefoniert werden darf, das entscheiden gesellschaftliche Absprachen, die aber nirgendwo stehen. Der Zeitpunkt zum Beispiel. Auf keinen Fall, so die Faustregel, dürfen Sie anrufen, wenn es am billigsten ist.

Also nach Mitternacht und am frühen Morgen. Trotzdem kann ein Anruf gerade dann Sinn machen. Marlene Ziegler weiß das. Sie ist eine Romanfigur von Gabriele Wohmann. Als Psychotherapeutin kommt sie zu dem Schluß: „Zur Unzeit kann sich einer bei dir melden, mit dem du zur richtigen Zeit versagt hast.“

In Nicholson Bakers Roman „Vox“ heißt es nüchtern: „Am Telefon gelten andere Regeln“. Verbindlich festgelegt ist wenigstens der Beginn: Das Wählen der Rufnummer, das Läuten am anderen Ende der Leitung und schließlich das Abheben des Hörers, als Antwort darauf. Dieses Einleitungsritual ist immer gleich. Gleich paradox.

Paradox ist, daß der Angerufene das Gespräch eröffnet. „Hallo“, sagt der oder sogar seinen Namen. Darüber kann man sich wirklich nicht genug wundern. Denn was läge näher, als wenn der Anrufer das erste Wort spricht. Schließlich ist er es, der das Gespräch wünscht.

Daß uns das Medium, allein mit Klingelläuten zur Nennung des Namens nötigt, wird von immer weniger Menschen hingenommen. Gerade im Zeitalter der Handys, wo fast immer irgend jemand mithört. Um sich selbst zu schützen, speisen deshalb viele den Anrufer mit einem gequälten Einsilber ab: „Ja…..?!“ In anderen Ländern, Frankreich etwa, ist das schon  lange üblich.

Auch sonst hat die Autorität des Telefons in den letzten Jahren merklich gelitten. Früher war das Medium der Platzhirsch in der Wohnung. Klingelte es, sprang man mitten im Satz hoch und eilte zum Apparat, als sei er ein schreiendes Kleinkind. Tempi passati. Heute bleiben wir im Bett liegen, lassen den Anrufbeantworter für uns abheben und hören ungerührt zu: „Geh doch mal ran.. Ich weiß, daß du da bist…“ Obwohl, stimmt nicht ganz. Mittlerweile ruft man an, weil man hofft, daß kein Mensch abhebt: „Hallo, hier spricht dein Bruder, ich wollte…. ach, du bist ja zuhause…?!“

Nachrichten, die früher telefonisch übermittelt wurden, werden jetzt häufig übers Internet verschickt. Das ist diskreter und geht geräuschlos. Doch kein Gewinn ohne Verluste. Die Aura der Stimme fehlt der Email spürbar. Die Stimme dringt tief ins Ohr, das sich niemals schließen läßt. Die Email auf dem Bildschirm aber ist schnell weg geklickt, wenn sie überhaupt bis zum Ende gelesen wird.

Möchte man wissen, wie die Deutschen mit dem Telefon umgehen – wieder bei Gabriele Wohmann erfährt man es. Die Texte sind in ihrer Realitätsnähe mitunter quälend, dafür aber fast schon soziologische Quellen. An bestimmten Tagen oder zu bestimmten Uhrzeiten telefonieren die Figuren regelmäßig miteinander. Es werden sogenannte Verständigungstelefonate geführt. So ist die Message das Medium: Der Sinn des Telefonierens besteht darin, Kontakt zu halten.

Der heiße Draht wird zur Nabelschnur, mit der die längst erwachsenen Kinder an ihren greisen Eltern hängen. Freiwillig oder auch unfreiwillig. „Wir haben unsere Rituale und wir könnten uns sehen“, sagt Emily in „Der Flötenton“ recht zweideutig über das Verhältnis zu ihrer Mutter. Und Emilys Mann stellt sachlich fest: „Der Wert dieses kurzen Telefonkontaktes lief darauf hinaus: es ist alles beim Alten, keiner gestorben.“

Da ist er wieder: der zweideutige, und doch so anziehende Herzschlag des Mediums. Nähe ja, aber auf Distanz. Der Draht glüht, doch manches verdampft dazwischen. Ich bin für dich da, aber auf Abstand. Das ist Liebe im aufgeklärten 21.Jahrhundert.

Ein reifes Ehepaar. Beide Schriftsteller. Getrennt lebend. Täglich rufen sie sich mindestens zweimal an – dazwischen mehrt jeder sein dichterisches Werk. Am Morgen telefoniert er, am Abend sie. Beide eilen ans Telefon, wenn der andere anruft, lassen ihn niemals warten. Soviel Zärtlichkeit, und Anerkennung liegen in diesem Ordnungssystem.

Das Paar in Ernst Jandls Sprechoper „Aus der Fremde“ sind also echte Telefonexperten. Führen sie doch vor, wieviel Spielräume das Medium eröffnet, wenn es darum geht, persönliche Beziehungen individuell zu gestalten. Andererseits bleibt auch manches auf der Strecke. Der Ehemann ahnt: „ohne telefon/ hätte er einen Sohn/ wenigstens eine tochter“

Mag sein. Doch das Telefon ist nicht so keusch, wie es aussieht. Gerade wenn es im Büro steht.

„Bei zehn bis 15 Gelegenheiten hatten Monika Levinsky und Präsident Bill Clinton Telefonsex“. Diese Information habe nicht ich recherchiert, sie steht im Bericht des damaligen Sonderermittlers Kenneth Starr. Oder Hans Wallner, früherer CSU-Landesabgeordneter. 1997 hat er, wie später gerichtlich festgestellt wurde, innerhalb von drei Monaten 405 mal bei Sex-Hotlines angerufen. Und zwar von seinem Dienstapparat aus. Kosten: 27.000 Mark.

Doch so ist das. Der Mensch entlastet sich am Telefon. Die Anonymität hilft loszulassen: Verantwortung und Druck. Oder auch: ein bißchen freier werden. Telefonsex, aber auch Telefonseelsorge, das sind die beiden Extremformen, die das Medium dafür gefunden hat. Triebabfuhr per Telefon in Zeiten von Berührungsscheu und AIDS. Der Notruf beim Seelsorger als digitaler Beichtstuhl.

Das Telefon schafft eben eine emotionale Anbindung, die kein Medium vor und bisher noch keines nach ihm mehr erreicht. Ein magisches Band, das schwer nur zu durchschlagen ist. Sie können das selbst feststellen, wenn Sie lange mit einem Freund telefoniert haben und nun gerne langsam zum Ende kämen…

Tatsächlich zeigen Studien, daß das Auflegen des Hörers, auch fast 130 Jahre nach der Erfindung des Fernsprechers für viele Menschen immer noch ein Problem darstellt. „Höchste Zeit, daß wir auflegen…“ heißt es dann hilflos und ziemlich schlecht begründet. Doch aus der Thematisierung des Auflegens ergibt sich oft wieder ein neues Gespräch. Und man vergißt, daß man ja eigentlich Schluß machen wollte. Doch nicht nur, weil Telefonieren Euros kostet, ist irgendwann finito. Die Japaner – wir wollen sie hier noch einmal würdigen – haben dabei eine besonders kuriose Variante entwickelt. Wenn sie ein Telefonat beenden müssen, das nicht so harmonisch verlaufen ist, dann versuchen sie den Hörer möglichst geräuschlos, ja zärtlich auf die Gabel zu legen. Ein absurdes, weil vergebliches Unterfangen. Irgendwann klickt es eben in der Leitung.

Der Kontakt am Telefon ist sofort hergestellt, wird aber auch abrupt wieder unterbrochen. Das entspricht so gar nicht dem Wesen des Menschen. Gleitende Übergänge ziehen wir vor. Ein zaghafter Beginn, eine vorsichtige Annäherung. Und zum Ende haben wir Sterblichen ohnehin ein gespaltenes Verhältnis.

Eine sehr eigene Vorstellung vom Abschluß ihres Telefonats haben Abby und Jim, die beiden Protagonisten des schon erwähnten Romans „Vox“. Mehrere Stunden, das heißt: ein ganzes Buch lang, haben Abby und Jim miteinander telefoniert, ohne sich vorher gekannt zu haben. Ihre Alternative zum Auflegen des Hörers klingt verdammt gut:

„Könnten wir uns nicht einfach ausblenden, während wir reden und reden…?“

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