Texter, Journalist und Autor Jürgen Bräunlein

Fastenwunder, Magersucht und Hungerstreik

Eine Kulturgeschichte der Nahrungsverweigerung

Bayerischer Rundfunk 6.4.2003 B2

„… vielleicht war er gar nicht vom Hungern so sehr abgemagert,“ heißt es in Franz Kafkas berühmter Erzählung „Der Hungerkünstler“, „sondern er war nur so abgemagert aus Unzufriedenheit mit sich selbst. Er allein nämlich wußte, auch kein Eingeweihter sonst wußte das, wie leicht das Hungern war. Es war die leichteste Sache von der Welt.“

Hungern als die leichteste Sache der Welt? Eher ein schwieriges Unterfangen oder gar das schlimmste Schicksal, das Menschen erleiden können: abmagern und sterben, weil sie nichts zu essen haben.

Kriege und vor allem der Verlust der Ernte durch außergewöhnliche Dürre oder zu viel Regen oder Frost haben im Laufe der Geschichte immer wieder schwere Hungersnöte verursacht. Und zahllose Tote gefordert. Noch heute sterben jährlich 9 Millionen Menschen an Unterernährung, davon 6 Millionen Kinder. Die schlimmsten Hungerregionen sind Äthiopien und der Süden Afrikas.

Als Reaktion auf eine unberechenbare Ernährungssituation haben Völker schon früh nach Möglichkeiten gesucht, dem Verzicht auf Nahrung auch Positives abzugewinnen. Freiwillig zu hungern als sinnvolle Entscheidung, als Experiment, als Tugend oder gar als Ideal.

Nahrungsverzicht als Form der Therapie, das ist so alt wie die Medizin selbst. Schon im 5. Jahrhundert vor Christus veröffentlichte Hippokrates eine umfangreiche und systematische Diätik, die zweierlei Nutzen verfolgte: die Gesundheit zu erhalten und Krankheiten zu heilen. Die Hippokratische Diät reichte vom Verzicht auf bestimmte Speisen bis hin zum völligen Fasten. Bis zu sechs Tage, so glaubte der Begründer der wissenschaftlichen Heilkunde, könne ein gesunder Mensch ohne Speisen auskommen.

Noch tiefer in der Menschheitsgeschichte verankert ist das Fasten aus religiösen Gründen. Schon in den vorchristlichen Kulturen standen Fastenrituale mit vollständigem oder partiellem Nahrungsverzicht im Zentrum eines frommen Lebens. Der freiwillige Verzicht, so eine Überlegung, ermöglichte erst, daß Gott den Menschen Fruchtbarkeit, Überfluß und Erlösung gewährt. Mit den eingesparten Speisen konnten ja tatsächlich Hungernde ernährt werden. Beim kollektiven Fasten, so ein anderer Gedanke, fänden die Christen zu einer wirklichen Gemeinschaft im Gedanken an Gott zusammen. Der lateinische Kirchenschriftsteller Tertullian, gefürchtet für seine rigorosen Ansichten, meinte gar

„Ein abgemagerter Körper wird das schmale Himmelstor leichter durchschreiten, ein ausgezehrter Körper bleibt im Grab am längsten erhalten.“

Lange verbreitet war die Vorstellung, in der Nahrung, besonders im Fleisch, steckten böse Kräfte, die so in den Körper eindringen würden, um ihre schädliche Wirkung zu entfalten. Wer fastete, blieb demnach von dämonischen Einflüssen verschont und erlangte innere Reinheit. Bei vielen Völkern wurde das Fasten dabei zum festen Bestandteil der Trauerrituale. Beim Tod eines Pharao verzichteten die alten Ägypter auf Fleisch, Weizenbrot und Wein. Im antiken Griechenland weinte und fastete Priamos, der König von Troja, viele Tage lang, nachdem sein Sohn Hektor von Achilleus getötet und grausam verstümmelt worden war. Noch eindringlicher ist das Beispiel von Demeter, der Göttin der Eleusischen Mysterien. Als sie ihre über alles geliebte Tochter an das Schattenreich verlor, durchstreifte sie mit brennender Fackel die Welt neun Tage und Nächte lang ohne zu essen und zu trinken. Diese Askese beim Trauern war nicht nur psychisch bedingt – aus Kummer nicht essen können – , sie sollte auch verhindern, daß die Seele des Verstorbenen über die Nahrung in die Körper der Hinterbliebenen dringt.

Im frühen Christentum wurde denjenigen, die an der Taufe oder der heiligen Kommunion teilnehmen wollten, vorheriges Fasten abverlangt. Der Verzicht auf Nahrung war die Vorbereitung auf religiöse Erfahrung. Der Prophet Elias führte das vor. Er enthielt sich 40 Tage lang jeglicher Speise und jeglichen Tranks, danach kam auf dem Berg Sinai die Offenbarung Gottes über ihn.

Grundsätzlich ging die christliche Lehre davon aus, daß körperliche und irdische Begierden verderblich seien und deshalb gezügelt und beherrscht werden müßten – zugunsten des erhabenen Geistes. Die Grundlage einer solchen Selbstzucht schuf Plato. Der griechische Philosoph begriff den Körper als Gefängnis. Eingesperrt war die Seele, die um ihre Freiheit rang. Da Nahrung aber nur dem Körper zu gute kam, ließ sie die Seele verkümmern. Wer also fastete, strebte nach der Vervollkommnung des Geistigen und rückte in die Nähe Gottes.

Im Christentum wurde diese Vorstellung weiter ausgebaut. Wer zu fasten bereit war, zeigte Buße. Er bereute die eigenen Verfehlungen und nahm zudem die Erbsünde auf sich. Erschwert noch durch weitere Formen des Verzichts – Sexuelle Enthaltsamkeit, Schlafentzug, Schweigen – wurde das Fasten zum Weg, die Nachfolge Christie anzutreten. Die Wüstenväter im vierten Jahrhundert brachten eine solche Selbstkasteiung zur Meisterschaft. Das Toleranzedikt von Mailand im Jahre 313 hatte den Christen weitgehende Glaubensfreiheit gebracht. Das Eremitendasein, das sich die Wüstenväter auferlegten, war auch eine Reaktion auf das verlorene Märtyrertum. Statt die Leiden einer verfolgten Minderheit nahmen sie jetzt die inneren Qualen eigener Selbstbeschränkung auf sich. Beispielhaft war das Leben des Heiligen Antonius, der sich als 20 jähriger in die ägyptische Wüste zurückzog, um „erfüllt vom Heiligen Geist“ und in allergrößter Einsamkeit fast nahrungslos zu leben. In der „Vita Antonii“ aus dem 4. Jahrhundert heißt es:

„Nahrung nahm er einmal täglich nach Sonnenuntergang zu sich; bisweilen aß er nur alle zwei, oft aber auch bloß alle vier Tage; er lebte von Brot und Salz, als Getränk diente ihm nur Wasser.“

Trotz seiner asketischen Lebensweise soll Antonius kaum mager gewesen und sehr alt geworden sein.

Ab dem 3. Jahrhundert wurden die kirchlichen Fastenregeln immer umfassender und komplizierter. Eingeführt wurde eine 40tägige Fastenzeit vor dem Osterfest. Später dann auch vor Weihnachten und nach Pfingsten. Im Mittelalter schließlich bestand zeitweise ein Drittel des Jahres aus Fastentagen. Doch in dem Maße, wie das Christentum zur Volksreligion geworden war, zeigte sich, daß man den gewöhnlichen Gläubigen mit den strengen Auflagen zuviel abverlangte. Fälle, in denen heimlich doch gegessen wurde, häuften sich so sehr, daß nach und nach Fastentage wieder abgeschafft wurden. Daß im späten Mittelalter eine zweite Blütezeit extremen Fastens begann, hing mit diesen Lockerungen zusammen: Manche Christen empfanden die Kirche mittlerweile als zu weltlich und die gemilderten Glaubenspraktiken als zu wenig konsequent. Besonders Frauen machten nun radikales Fasten zum zentralen Bestandteil ihres Glaubens. Mit erstaunlichem Erfolg: Hungernde wurden zu Heiligen.

In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts etwa Catharina von Siena, eine der bedeutendsten Fastenheiligen Italiens. Wie moderne Magersüchtige begann Catharina von Siena ihre Karriere in der Jugend und hielt ihr strenges Fasten bis zu ihrem Tod im Alter von 34 Jahren aufrecht. Das Essen soll ihr so große Qualen bereitet haben, daß schon eine geringe Menge Nahrung sie erbrechen ließ. Von Pflanzenblättern abgesehen, hat sie angeblich nur Hostien und Wein verzehrt, symbolisch: Leib und Blut Christi. Allein der Anblick der geweihten Speisen soll sie sichtlich belebt haben.

Catharina von Siena fand zahlreiche Nachahmerinnen: Catharina von Genua, Domenica del Paradiso oder Elsbeth Achler von Reute, eine schwäbische Mystikerin, die in den Franziskanerorden eintrat. Elsbeth Achler hungerte nicht nur, auf ihrem abgemagerten Leib sollen sich auch die Kreuzesmale Christi gezeigt haben. Doch in den nachträglichen Lebensschilderungen der Fastenheiligen waren Dichtung und Wahrheit immer schon untrennbar miteinander verwoben. Fast stereotyp enden die Beschreibungen mit Sätzen wie

„Das Mädchen lebte durch die einzigartige, reine und unbegreifliche Gnade des allmächtigen Gottes“ oder „Auch wenn es den menschlichen Verstand übersteigt, ernährte sie Gottes Gnade von innen.“

Essen oder nicht Essen. Die eigene Nahrungsaufnahme zu kontrollieren war für Frauen im Mittelalter eine akzeptierte Möglichkeit, ein religiöses Ideal zu verkörpern und dabei gesellschaftliche Anerkennung zu finden, nämlich zu leiden und gleichzeitig zu helfen. Von den meisten Fastenheiligen wurde berichtet, sie könnten mit ihrem Speichel heilen oder aber wertvolle Öle ausscheiden. Das Phänomen der mittelalterlichen Fastenheiligen – männliche Vertreter gab es nicht – kann als früher Emanzipationsversuch gelesen werden: Außerhalb der Familie stand Frauen damals nur die Rolle der Heiligen oder der Nonne offen. Über den Weg des Hungerns kamen sie oft schon zu Lebzeiten zu Ruhm und machten, zumindest einige von ihnen, innerhalb kirchlicher Institutionen Karriere. So auch Catharina von Siena: sie wurde von Papst Gregor XI. als Beraterin nach Rom geholt.

Maßloses Fasten war der Kirche jedoch in der Regel ein Dorn im Auge. Es stand im Widerspruch zur Demut, die von einem aufrichtigen Christen zu erwarten war. Er hatte sich zu bescheiden und nicht spektakulär in den Vordergrund zu drängen. Manchem Fastenden wurde deshalb Besessenheit unterstellt: nicht Gott, sondern der Satan verführe ihn zur Selbstaushungerung. Der Widerstand des Klerus hatte aber vor allem machtpolitische Gründe. Die römisch-katholische Kirche verstand sich als der einzige legitime Vermittler zwischen Gott und den Gläubigen. Extreme Faster aus religiösen Gründen behaupteten aber selbstbewußt, daß Gott sich in ihnen offenbare. Das aber gefährdete das Machtmonopol der Kirche. Zumal es auch noch willensstarke Frauen waren, die an einem patriarchalischen System rüttelten.

Ab dem 16. Jahrhundert begann sich das Fasten langsam aus dem religiösen Zusammenhang zu lösen und entwickelte immer stärker Züge eines öffentlichen Spektakels. Frauen, die die scheinbar übermenschliche Fähigkeit des langen Hungerns besaßen, wurden jetzt „Wundermädchen“ genannt– wie Barbara Kremers aus Unna, Eva Vliegen oder Maria Jehnfels. Man bestaunte und verehrte sie auf durchaus profane Weise. Die Holländerin Engeltje von der Vlies, geboren 1787, wurde gar als Attraktion in einen englischen Reiseführer aufgenommen. Doch zunehmend machte sich Skepsis breit. Die vermeintlichen Fastenwunder wurden schärfer überprüft. Die 13jährige Margaretha Weiss, die angeblich seit ihrem zehnten Lebensjahr nichts mehr aß, wurde 1542 auf dem Reichstag von König Ferdinand I. einer offiziellen Überwachung unterzogen. Margaretha bestand alle Prüfungen, ihre Nahrungslosigkeit wurde kaiserlich anerkannt, andere Frauen wie Eva Vliegen oder Barbara Kremers wurden des Betrugs überführt und gesellschaftlich geächtet.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts waren die meisten Ärzte schließlich davon überzeugt, daß extrem lange Nahrungsenthaltung unmöglich war. Aus den Fastenwundern wurden Studienobjekte, an denen sich das Funktionieren oder Nichtfunktionieren des menschlichen Organismus erforschen ließ. Frauen, die langfristig fasteten, wurde jetzt eine pathologische Störung bescheinigt. Man rückte sie in die Nähe von Geisteskrankheit und Hysterie, ohne das Spezifische weiblicher Nahrungsverweigerung benennen zu können. In einem Krankheitsbericht aus dem Jahre 1859 ist etwa zu lesen:

„Sie war von zarter nervlicher Konstitution und keine große Esserin. Unglücklicherweise führte die Tatsache, daß sie wenig aß, zu ungewohnter Aufmerksamkeit und Bemerkung ihrer Freunde, die sich offenbar um sie sorgten. Sie ihrerseits fand bald heraus, daß das Erstaunen in dem Maße wuchs, wie ihre Portionen kleiner wurden,  und daß sie dadurch zum Ziel besorgter Bemühungen all ihrer Freunde wurde. Also wurden die Nahrungsmengen immer mehr verringert, bis sie schließlich tagelang keinen einzigen Brocken mehr zu sich nahm. (…) Nach langem  Leiden und trotz aller Bemühungen ihrer Freunde, sie von ihrer Besessenheit abzubringen und ihr ihre Narrheit abzugewöhnen, starb sie. Die Autopsie ergab keinen organischen Schäden, außer einer ungewöhnlichen Schrumpfung des Magenumfangs.“

Erst 1873 bekam die rätselhafte Krankheit einen Namen. Aus der wundersamen Appetitlosigkeit – „Anorexia mirabilis“ – war psychisch bedingter Appetitmangel geworden – „Anorexia nervosa“. Oder eben Magersucht.

Fast zeitgleich beschrieben der englische Facharzt William Withey Gull und der Pariser Neurologe Charles Lasègue die Symptome: die Weigerung Nahrung aufzunehmen, obwohl der Körper dünn und ausgemergelt war, eine auffällige Hyperaktivität, die im Widerspruch zur schwachen Konstitution stand, sowie ein tief verwurzeltes Verlangen, mager zu sein und noch magerer zu werden. Betroffen waren ausschließlich junge Frauen in der Adoleszenz aus bürgerlichem Elternhaus.

Zur selben Zeit, als in Europa Ärzte weibliche Selbstaushungerung als Krankheitsbild entdeckten, etablierte sich ein männlicher Berufsstand, der vom ausdauernden Nahrungsverzicht lebte: die Hungerkünstler.

Es war die Zeit, als sich Menschen mit körperlichen Auffälligkeiten gegen Eintritt auf Jahrmärkten, im Zirkus und in städtischen Vergnügungsparks präsentierten: Zweimeter-Männer und Kleinwüchsige, Frauen mit Bärten und Albinos,  siamesische Zwillingen und Menschen, die so dünn waren, daß man ihre Knochen sehen konnte. Sie alle boten einem voyeuristischem Publikum den Kick des Perversen: etwas was anzog und abstieß zugleich.

Hungerkünstler waren etwas Neues, sie stellten nicht einfach nur ihre Körper aus, sie demonstrierten auch seine Veränderbarkeit. Trendsetter war der Amerikaner Henry Tanner. Der 50jährige Arzt, der in Ohio neben seiner Praxis eine elektrothermische Badeanstalt betrieb, begann am 28. Juni 1880 in New York City eine 40 tägige Hungerkur. Außer Quellwasser wollte er nichts zu sich nehmen. Tanners Ziel war es,

„die Kraft des menschlichen Willens zu demonstrieren und den Materialisten zu beweisen, daß es außer Sauerstoff, Wasserstoff und Kohlensäure noch etwas anderes im menschlichen Hirn gibt.“

Ständig bewacht, tagsüber von Mitgliedern des Neurologischen Instituts, nachts von Polizisten, verbrachte der Hungerdoktor, wie die Presse ihn nannte, seine Zeit im freien Müßiggang. Er las, ging spazieren oder sprach mit den Tausenden von Besuchern, die jeweils 25 Cent Eintritt bezahlten. Eine Illustrierte zog das Fazit:

„Gegen Ende der Fastenzeit mußte Dr. Tanner fast alltäglich erbrechen, doch überwand er auch diese Störungen und nach vierzig Tagen hatte er glücklich die Würde eines Champion-Hungerers errungen.“

Tanner soll 137.640 Dollar verdient haben. Eine Ermunterung für Nachahmer. Tatsächlich breitete sich das Schauhungern bald auch in Europa aus. Bereits 1895 führte das Standardwerk „Fahrendes Volk“ den „Hungerkünstler“ als Berufsbezeichnung auf. Auch die Wortneuschöpfung „Hungervirtuose“ erreichte die Alltagssprache. Giovanni Succi, Stefano Merlatti, Francisco Cetti oder Willhelm Bode alias Ricardo Sacco hießen die europäischen Stars des neuen Gewerbes, die in London, Paris, Mailand, Wien oder auch Berlin auf Hungertour gingen. Sie waren Glücksritter, erfolglose Maler oder Musiker, irgendwie gescheitert, aber eben auch kreativ und witterten  die unkonventionelle Einnahmequelle. Hungernde Frauen wie Auguste Victoria Schenk, eine Schauspielerin aus Graz, waren die Ausnahme.

Die große Faszination an den Hungerkünstlern hing eng mit der bürgerlichen Lebensreformbewegung zusammen, die sich in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg zu bilden begann. Die Themen Körper und Ernährung rückten jetzt überall ins Zentrum. Fragen der Hygiene und der „richtigen“ Kleidung beschäftigten die Menschen, Vereine für Sport und Gymnastik wurden gegründet, die FKK-Bewegung entstand. Vegetariervereine schossen wie Pilze aus dem Boden. Kafka, ganz Kind seiner Zeit, nahm die Anregungen auf: Er betrieb systematisch Körperertüchtigung, experimentierte mit Diäten, fastete und schrieb seinen „Hungerkünstler“, für Literaturwissenschaftler auch ein Zeugnis von Kafkas eigener Magersucht.

Um das Publikum bei Laune zu halten, mußte das Schauhungern, nachdem es einmal populär geworden war, immer aufwendiger inszeniert werden. Öffentlich gehungert wurde nun in großen Sälen, in Wien sogar in Kaffeehäusern. Die Veranstalter bauten meist eigens kleine Behausungen, vergipste Eisenkonstruktionen mit Glaswänden, in denen die Künstler eingesperrt waren. Die Luftzufuhr besorgte ein dünnes Drahtgitter. Das Publikum beobachtete den Eingeschlossenen durch die Scheibe wie Tiere im Zoo und schloß Wetten ab, wie lange er durchhielt. Die Zeitungen berichteten täglich von dem Spektakel.

Die Hungerkünstler wurden mittlerweile von Managern vertreten. Sie benahmen sich wie Medienstars, bekamen überall Blumensträuße und gaben Autogramme. Als Giovanni Succi 30 Tage lang in Mailand hungerte, rückte mit ihm ein 53köpfiges Überwachungskomitee an. Zuvor ließ er sich in Heldenposen fotografieren. Eine Ritterrüstung sollte seinen eisernen Willen demonstrieren.

Das Schauhungern wurde mit Blick auf die Heilsgeschichte in Szene gesetzt. Überall waren religiöse Anspielungen zu finden. Gewöhnlich begann der Hungerkünstler sein Fasten in der Osterzeit. Bevor er „eingemauert wurde“, wie es hieß, nahm er vor dem festlich gekleideten Publikum sein letztes Abendmahl ein. Hatte er seine Hungerkur erfolgreich beendet, zog er ebenso feierlich wieder aus. Er wurde von mehreren Ärzten untersucht und speiste dann erneut vor Publikum. All das suggerierte eine Auferstehung von den Toten, gefolgt von der Rückkehr ins Leben.

Im Gegensatz zu den Fastenheiligen, die sich ausdrücklich auf Gott beriefen, bezeichneten die Hungerkünstler ihr Tun als einen freien, kreativen Willensakt. Sie befanden sich damit ganz im Einklang mit ihrem bürgerlichen Publikum. Fleiß und ein starker Willen führten zum Erfolg. Das war auch die bürgerliche Leistungsmaxime. Entsprechend vergrätzt reagierte das Publikum, wenn der Hungerkünstler vorzeitig aufgab. Karl Kraus, der mehrere solche Spektakel verfolgt hat, stellte polemisch fest:

„In Deutschland ist man gegen Hungerkünstler, die nicht durchhalten wollen, weit unerbittlicher als gegen Fürsten, die während des Weltkriegs noch ganz anderes zu sich genommen haben als Biomalz und die Zuschauer noch ganz anders betrogen haben. In Österreich würde man vielleicht nicht einmal einem mogelnden Hungerkünstler eine so bestialische Strafe aufmessen. (…) Der Mann, der seine Körperqual zur Schau stellt, füllt seinen sozialen Beruf aus und bekommt es nur mit der deutschen Justiz zu schaffen, wenn er die Kunden um die Herzkrämpfe verkürzt.“

Mit seinem Unbehagen am Schauhungern blieb Karl Kraus nicht allein. Die Sympathie der Zuschauer hielt nicht an. Man bezeichnete Hungerkünstler bald als krankhaft ehrgeizig, schickte ihnen unfreundliche, ja obszöne Briefe und karikierte sie bissig in den Zeitungen.

„In den letzten Jahren ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurückgegangen“, heißt es dann auch in Kafkas „Hungerkünstler“, geschrieben 1922, „Während es sich früher gut lohnte, große derartige Vorführungen zu veranstalten, ist dies heute völlig unmöglich“.

Kafkas Diagnose entsprach der damaligen Realität. Das Kino begann sich zu etablieren, die Blüte des Schaustellergewerbes war vorbei. Eine verbesserte Sozialpolitik ersparte es Menschen, die eine körperliche Auffälligkeit hatten, sich gegen Eintritt öffentlich vorführen zu lassen. Zudem häuften sich moralische Bedenken. Wie konnte angesichts der Folgen des Ersten Weltkriegs, die Selbstaushungerung von Menschen als Unterhaltung genossen werden?

Schon 1905 kam es auf dem Münchner Oktoberfest zu einem bezeichnenden Zwischenfall. Ein Hungerkünstler, der in einem Bierzelt fastete, ging den Gästen, die ihre Schweinshaxen verzehrten, dermaßen auf die Nerven, daß sie den Glaskasten stürmten und den Ausgemergelten in eine nahe gelegene Bäckerei verschleppten und mit Kuchen stopften.

Die kollektive Aggression war erklärbar: Menschen, die sich so hartnäckig den Freuden des Lebens widersetzen konnten wie die Hungerkünstler, flößten einfach Angst ein. Sie waren womöglich noch zu ganz anderen Dingen fähig. Zum Umsturz. Denn:

„Revolutionäre Kompromißlosigkeit maskiert sich im Antlitz des Hungers, ein nicht erfüllbares Sehnen, das gleichsam alle Orte seiner Befriedigung überspringt, treibt zur wahrhaft umstürzlerischen Tat.“

So der Berliner Kulturwissenschaftler Thomas Macho über den Zusammenhang von Essensverhalten und Fanatismus. Wer ohne Not kompromisslos hungert, stellt die bestehenden Ordnung in Frage. Und bringt eine Gesellschaft, die sich als human versteht, in große Bedrängnis. Die Rede ist vom Hungerstreik.

Wer in den Hungerstreik tritt, den geht es nicht um ein religiöses oder ästhetisches Erlebnis, er benutzt seinen Körper als Druckmittel. Als Form des öffentlichen Protests und Mittel, politische Forderungen durchzusetzen, wurde der Hungerstreik erst im 20. Jahrhundert populär, ist aber schon sehr viel älter.

Im mittelalterlichen Irland war es möglich, finanzielle Schulden durch ausdauerndes Fasten zu tilgen. Der Hungerstreik verlieh der eigenen Integrität offenbar soviel Gewicht, daß selbst das geltende Recht außer Kraft gesetzt wurde. In England  trat zum Beispiel im Jahre 1357 eine gewisse Cicely de Rygeway in den Hungerstreik. Man beschuldigte sie des Gattenmordes. Als sie vor Gericht das Schweigen wahrte, wurde sie verhaftet. In der Zelle verweigerte sie 40 Tage lang Essen und Trinken. Das aber überzeugte den König von ihrer Unschuld und er begnadigte sie.

Eine der ersten Hungerstreikenden in neuerer Zeit war Wera Nikolajewna Figner, eine russische Revolutionärin, die sich 1882 am  Attentat auf Zar Alexander II. beteiligt hatte und deshalb zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Als die Haftbedingungen deutlich verschärft wurden, verweigerte die Revolutionärin, die gelernte Hebamme war, die Nahrung und erreichte schließlich eine Verbesserung ihrer Situation.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Hungerstreik das Druckmittel von Pazifisten, die sich dagegen wehrten, wie Verbrecher behandelt und verurteilt zu werden. Dieselbe Form des passiven Widerstands wählten auch die Suffragetten, die Aktivistinnen der britischen Frauenbewegung, als sie, was häufig der Fall war, wegen Störung der öffentlichen Ordnung, ins Gefängnis kamen. Es existieren Photographien, auf denen zu sehen ist, wie die Frauen mit gewaltsam eingeführten Gummischläuchen zwangsernährt werden, was sehr schmerzhaft gewesen sein muß. Die Bilder dokumentieren aber auch die Not der damaligen Regierung: sie wollte keine Menschenleben auf dem Gewissen haben, sich aber auch nicht erpressen lassen.

Nur wenige Hungerstreiks hatten weitreichende weltpolitische Konsequenzen. Mahatma Gandhi hungerte in den 30er Jahren, um gegen die Vorherrschaft der Engländer zu protestieren. Ein Beispiel für die Wirksamkeit gewaltlosen Widerstands. Gandhi „erfastete“ die Unabhängigkeit Indiens.

„Nur wer zu hungern versteht, kann eine Welt in Bewegung bringen“, urteilt der Kulturwissenschaftler Thomas Macho, „nur wer die „Moral“ des utopisch besseren Lebens über die aktuellen Angebote des „Fressens“ stellt, darf auf die Verwirklichung seiner unmöglichsten Träume hoffen; und nur wer nichts zu wünschen gelernt hat, kann alles erobern.“

Inzwischen vergeht kaum eine Woche, in der nicht von irgendeinem Hungerstreikenden berichtet wird, obgleich nur noch wenige Schlagzeilen machen. Erstaunlich, wenn nicht rätselhaft bleiben die Entschlossenheit und Willensstärke, mit der Menschen bereit sind, sich für ihre innersten Überzeugungen tot zu hungern. Zumal der Prozeß des Aushungerns nicht nur körperlich schmerzhaft ist, sondern auch die Psyche ängstigt. Knut Hamsun, der  norwegische Schriftsteller, thematisierte das 1890 in seinem Roman „Hunger“. Ein brotloser Dichter, der am Verhungern ist,  beschreibt und analysiert den Zustand seines körperlichen Verfalls.

„Mein nervöser Zustand hatte sich verschlimmert, und ich versuchte, mich aus allen Kräften zu wehren, aber es half nichts. Da saß ich, eine Beute der seltsamsten Phantasien (…) Ich starrte in die Dunkelheit hinaus, ich hatte niemals in meinem Leben eine solche Finsternis gesehen. (…) Die lächerlichsten Gedanken beschäftigten mich, und jedes Ding erschreckte mich.“

Die Wahrnehmung der Außenwelt wird immer intensiver, gleichzeitig verschmelzen die Grenzen von Wirklichkeit und Wahn. Der Ich-Erzähler fährt fort:

„Ein kleines Loch in der Wand bei meinem Bett nahm mich sehr in Anspruch. Ein Loch von einem Nagel, das ich in der Wand finde, ein Zeichen in der Mauer. Ich fühle es an, blase hinein und versuche seine Tiefe zu erraten. Das war nicht irgendein unschuldiges Loch, durchaus nicht; es war ein tückisches und geheimnisvolles Loch, vor dem ich mich hüten musste. Und von dem Gedanken an dieses Loch besessen, ganz außer mir vor Neugierde und Furcht, musste ich zuletzt vom Bett aufstehen und nach meinem Federmesser suchen, um die Tiefe zu messen und mich zu vergewissern, daß es nicht genau in die Nebenzelle hinüberführte.“

Der brotlose Dichter hungert nicht freiwillig, doch neben den seelischen und körperlichen Qualen, die er erleidet, genießt er die neue unheimliche Wahrnehmung auch als ästhetische Grenzerfahrung. Am Ende entscheidet er sich fürs Leben. Er heuert auf einem Schiff an und verläßt die Stadt.

Heute stirbt in Deutschland niemand mehr am Hunger. Auch Hungerkünstler sind nirgendwo mehr zu besichtigen. Allerdings haben sich die Krankheitsbilder „Anorexia nervosa“ und Bulimie in der abendländischen Welt seit den 70er Jahren fast epidemieartig ausgebreitet. Wenn Neurosen ihren Zeitstil haben, wie Karl Jaspers sinngemäß meinte, dann spiegelt gerade die Magersucht die psychischen Gebrechen unserer Moderne. Die Magersüchtigen von heute hungern inmitten einer Konsumwelt des leckeren Schlemmens, weil sie einem bestimmten gesellschaftlichen Schönheitsideal entsprechen wollen. Doch in Wirklichkeit hungern sie nach etwas anderem: nach Anerkennung, Verständnis, Zuneigung.

Als Kafkas Hungerkünstler, der am Ende stirbt, von seinem Aufseher gefragt wird, warum er nicht anders kann als zu hungern, antwortet er dann auch symbolisch: „…weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.“

Jürgen Bräunlein

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