Texter, Journalist und Autor Jürgen Bräunlein

Tod: Die letzte Bastion der Privatheit bröckelt

Interviews mit sterbenskranken Prominenten als notwendiger Tabubruch?

Rheinischer Merkur vom 22.11.2007

Ich, Ingrid Bergman, liege nicht im Sterben“, konterte die schwedische Filmschauspielerin knappund sachlich per Zeitungsanzeige, als sie irrtümlich für todkrank erklärt wurde. Als sie Jahre später wirklich im Sterben lag, wussten die Journalisten nichts davon, gleichwohl Gerüchte über eine Krebskrankheit schon länger im Umlauf waren. Die Bergman, eine Filmdiva aus alter, glanzvoller Zeit, wäre nie im Traum darauf gekommen, über ihre Krankheiten oder gar das eigene Sterben öffentlich zu sprechen.

Marlene Dietrich, Greta Garbo und Audrey Hepburn hielten es ähnlich. Doch schon Hildegard Knef durchbrach das Muster. Als sich Mitte der Siebzigerjahre ihre Schallplatten zusehends schleppend verkauften, katapultierte sie ausgerechnet der autobiografische Bericht über ihre Brustkrebserkrankung („Das Urteil“) ins grelle Rampenlicht zurück. Das Buch wurde wegen der Direktheit des dort Beschriebenen ein Bestseller. Ein weiterer Tabubruch der „Sünderin“: Die Knef war der erste deutsche Star, der aus der eigenen Krankheit publizistisch und finanziell Kapital schlug. Selbst im Alter, als ihre körperliche Hinfälligkeit nicht mehr zu überspielen war und sich als Gesprächsthema förmlich aufdrängte, bewertete sie den Vorzug, im Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit zu stehen, immer noch höher als Tugenden wie Diskretion und Stil. Am 17. Januar 2002 interviewte Johannes B. Kerner die sichtlich Angeschlagene schließlich per Videoschaltung. Als Hildegard Knef zwei Wochen später starb, wurde das morbide Dokumentnochmals gesendet, um den deutschen Weltstar „zu würdigen“. Kein Geheimnis war, dass das ZDF damals von der Konkurrenz beneidet wurde, hatte man doch das letzte Knef-Interview im Kasten. Der Effekt darf als gruselig bezeichnet werden: Millionen von Deutschen saßen virtuell am Sterbebett einer Frau, mit der sie noch nie ein persönliches Wort gesprochen hatten. Doch Nervenkitzel und Voyeurismus wogen schwerer als das scheinbar nicht mehr naheliegende Empfinden, hier etwas zu sehen und zu hören, was nicht in eine anonyme Öffentlichkeit gehört.

So neu ist es also nicht, wenn Journalisten von ihren Redaktionen losgeschickt werden, um todkranke, aber gesprächsbereite Dichter wie Walter Kempowski und Robert Gernhardt oder Showmaster wie Rudi Carrell zum letzten oder gar allerletzten Interview zu bitten. Neu aber ist die sich einschleichende Selbstverständlichkeit, mit der Medien das Sterben Prominenter begleiten und der merkwuürdige Eifer, mit dem diese Prominenten das Mikrofon suchen.

Neu ist nicht zuletzt die Kaltschäuzigkeit, mit der menschliches Siechtum und Sterben zum makabren und inszenierten Teil einer ökonomischen Verwertungskette werden, von der scheinbar alle profitieren. Die Medien, die effektvolle Schlagzeilen produzieren, die Fast-Toten, die in der Stunde ihres Todes für den Nachruhm arbeiten, und die Rezipienten, die all dies schaudernd und doch neugierig konsumieren. Solche letzten Besuche, von Harald Schmidt treffend als „eigene journalistische Berufskategorie“ bezeichnet, sind ein weiterer Beleg für die zunehmende Boulevardisierung der Medien. Die Yellow Press publiziert heute längst nicht mehr nur Fotos von schlecht gestylten oder pummeligen Prominenten, sondern gern auch Nahaufnahmen von deren Cellulitis, Krampfadern oder Hautkrebs. Bereits 1995 brachte der „Spiegel“ als Aufmacher ein langes Interview mit dem an Darmkrebs erkrankten Ex-Fernsehmoderator Hajo Friedrichs, geführt am Krankenlager. Krebs goes Entertainment. Und das bei gutem Timing. Zwei Tage nach Erscheinen des auflagenstarken Heftes verstarb Friedrichs.

Anzuerkennen ist, dass Tod und Sterben hierzulande nicht länger tabuisiert werden. In der Kunst und in Film und Fernsehen sind das längst schon Dauerthemen. Krimiserien wie „C.S.I.“ „Crossing Jordan“ oder „Dr. House“ zeigen Leichen und ihre Obduktionen. In der Kultserie „Six Feet Under“ liefert sogar ein Bestattungsinstitut die Fernsehszenerie. Doch diese Zurschaustellung dringt selten in die Tiefe. Oder wie es der Kulturwissenschaftler Thomas Macho formuliert: „Die konkrete Materialität des Toten, seine erschreckende Fremdheit, wird nach wie vor ausgeschlossen.“ Die schockierende Zerstu¨ckelung von Körpern, wie sie oft genug auf Kinoleinwänden zu sehen ist, erscheint hingegen wie der verzweifelte Versuch, die menschliche Angst vor der Auflösung zu bannen. Die Debatte um eine Legalisierung von Sterbehilfe zeigt zudem, wie sich das Lebensende für uns zusehends als Problem darstellt, für das individuelle und gesellschaftliche Bewältigungsstrategien fehlen. Die Lebenserwartung nimmt immer weiter zu, und der medizinische Fortschritt (gerade auch in der Diagnostik) hat zur Folge, dass immer mehr Menschen mit dem Wissen leben müssen, nur noch eine begrenzte Lebensspanne vor sich zu haben. Fragen nach dem Wie und Wo des Sterbens bekommen eine beklemmende Wichtigkeit. Auch spirituelle und religiöse Fragen drängen sich dann auf. Todkranke Prominente im letzten Interview fungieren da wie verzerrte Projektionsflächen. Lässt sich der Tod hier bei der Arbeit zusehen? Kommt man beim Lesen dem „Rätsel“ Sterben vielleicht näher? Immerhin geht das hier, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen, denn sterben wird zunächst der andere.

„Wie wollen Sie sterben?“, wurde Kempowski gefragt, „Woran denken Sie in Ihren letzten Wochen im Besonderen?“ Doch im Kontext der journalistischen Form sind keine aufrichtigen Antworten möglich. Tabus auf der einen und Eitelkeiten auf der anderen Seite verstopfen die Wege zur Erkenntnis. Dem Sterbenden, der noch eine Audienz gewährt, als sei er der Papst, werden bereits Heldenkränze geflochten, Schmeicheleien zementieren die geführten Gespräche zu vorgezogene Nachrufen. „Jetzt plötzlich, kurz vor ihre Ableben, feiert der Betrieb Sie“, wird Kempowski entgegengehalten, der unverblümt antwortet: „Hätte ein bisschen früher kommen können.“ Und auch Rudi Carrell ist sich ganz sicher: „Neben mir ist Peter Alexander der einzige echte Showmaster in Deutschland.“

Die Kranken erteilen Ratschläge, begleichen alte Rechnungen und wollen das letzte Wort haben. Dabei sind letzte Worte, wie Karl Marx zu Recht befand, „nur etwas für die törichten Leute, die nicht genug zu sagen gehabt haben“. Doch hier geht es um Menschen, deren Lebensentwu¨rfe auf Erfolg, Leistung und Karriere ausgerichtet waren, und noch die letzten Interviews erzählen von der irdischen Anerkennung, die sie auch jetzt noch begehren. Die Journalisten mutieren oft genug zu Beichtvätern. Obszön daran ist, wie sich die fraglos Verdienstvollen noch im Sterben öffentlich Zuwendung und Tröstung stehlen, auf die sie als Prominente glauben Anspruch zu haben. So wurde der weithin geschätzte Starjournalist, der 70-jährige Jürgen Leinemann, kürzlich in die Schranken gewiesen, als er im „Zeit-Magazin“ in der Titelgeschichte davon erzählte, wie er versucht, sein Leben nach der Krebsdiagnose zu meistern. Ein Mann mittleren Alters, schwer krank und dazu noch verarmt, antwortete Leinemann im Internet: „Ich muss Ihnen sogar gestehen, dass es mich sehr verärgert, wenn jemand mit solch einem außergewöhnlichen Leben wie das, was Ihnen zu leben vergönnt war, in einem Alter, das schon durchaus beachtenswert ist, so mit seiner Krankheit hadert.“

Der eine mag sich leise und im Verborgenen aufs Sterben vorbereiten, der andere mehr die Öffentlichkeit suchen. Der todkranke 46-jährige Informatiker und Virtual-Reality-Experte Randy Pausch wurde innerhalb weniger Tage zum Pop-Phänomen, als er in seiner Universität in Pittsburgh eine „letzte Vorlesung“ gab mit einer Abschiedsbotschaft für Amerika. Stehende Ovationen gab’s schon zu Beginn. Im heiteren Rückblick auf ein erfülltes Leben sieht der Redner seinem eigenen Tod entgegen. Über sein baldiges Sterben sprach er nicht, auch nicht darüber, was noch bei Martin Luther als wichtiges Ordnen der weltlichen Dinge beschrieben wurde und heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Kernarbeit dieser christlich motivierten Lebensrückschau ist nicht etwa, sich dafür zu rühmen, wie tapfer man Schmerzen und Krankheit aushält oder welche gesellschaftlichen Verdienste man zu Lebzeiten erworben hat. Sondern es geht allein darum, Frieden in seinem engsten Umkreis zu stiften, indem man andere um Verzeihung bittet und auch selbst zu verzeihen bereit ist. Eine, wie leicht zu begreifen ist, private Angelegenheit, die in der Öffentlichkeit nichts zu suchen und zudem mit Demut zu tun hat. Dahinter steckt die ganz und gar unpopuläre Aufforderung, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, gerade in Anbetracht des Todes. Genau davon aber kann die ebenso reißerische wie egozentrische journalistische Form des letzten Besuchs gar nicht sprechen.

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