Texter, Journalist und Autor Jürgen Bräunlein

Reine Männersache

Wertedebatte: Ist die Ehre ein sittliches Gut, das eine Wiederbelebung verdient?

Rheinischer Merkur vom 7.2.2006

Die verloren gegangene Unschuld der Schwester ist dem Bruder Anlass genug, sie als ehrlos abzustempeln: „Da du dich sprachst der Ehre los,/ Gabst mir den schwersten Herzensstoß“, sagt er, selbst tief gekränkt, und urteilt kategorisch: „Auf Erden“ sei sie nun „vermaledeit“. Was wie der Auftakt zu einem Ehrenmord in einem Dorf in der Türkei klingen könnte, ist Goethes „Faust“ entnommen. Zur Entstehungszeit des Klassikers ist die „Ehre“, als sittliche Größe und Maßstab in den Augen der anderen, in Deutschland hoch im Kurs. Vor allem das „Bürgerliche Trauerspiel“ kümmert sich ausgiebig darum; hier wimmelt es von Menschen, die tapfer oder wenigstens leicht zerknirscht um die eigene Ehre ringen und oft genug daran zugrunde gehen.

Vor allem für Bürgerstöchter, die vom schmalen Pfad der (sexuellen) Tugend abzweigen, gibt es in der Regel keinen anderen Ausweg als die Selbstauslöschung, um die einmal begangene Schande zu sühnen. Oder aber um die gerade noch gerettete Ehre wenigstens im Tod zu behalten. So bei „Emilia Galotti“, die der Anziehungskraft des adeligen savoir vivre zu erliegen fürchtet, und ihren Vater auch deshalb um ihre Erdolchung (!) bittet. Ein politisches Drama, sicherlich, aber ebenso eines um Auffassungen von bürgerlicher Familienehre. Es erinnert – bei allen deutlichen Unterschieden – auch an die tödlichen Ehrauffassungen, mit denen wir uns aktuell im eigenen Land herumschlagen müssen. Der sogenannte Ehrenmord wird in muslimisch geprägten Parallelgesellschaften nach Deutschland importiert, wo er uns empört und ratlos zugleich macht. Unsere Erschütterung hängt damit zusammen, das uns das Normensystem einer „Honour-and-shame“-Gesellschaft näher ist, als wir uns eingestehen.

Rituale des Zweikampfs

Die Ehre als öffentliches Ansehen, soziale Billigung des einzelnen durch sein Umfeld war in Deutschland seit Ausgang des Mittelalters der höchste aller innerweltlichen Werte – pathetisch überhöht zwar, aber immer pragmatisch gebunden an ein Kollektiv: die Familie, den Stand. Eine soziale Gruppe, die sich aufgrund Herkunft, Erziehung, Besitz und Erwerbsformen zusammenfindet, reklamiert bestimmte Werte für sich und formt sie zu einer eigenen Auffassung von Ehre. Jeder Stand seine Ehre – die Kaufmannsehre, die Offiziersehre, die Mannesehre – die nach außen gelebt sein will. Das entlastete Jahrhunderte lang die Gerichte, hinterließ aber auch lange Blutspuren. Jeder vierte Adelige konnte damit rechnen, sich einmal in seinem Leben zur Klärung von Ehrenstreitigkeiten duellieren zu müssen. Seit Anfang des 17.Jahrhunderts setzte sich der bewaffnete Zweikampf in ganz Europa durch, gewissermaßen die moderne Fortschreibung des ritterlichen Kräftemessens.

Die hohe Ritualisierung – mehrere Bücher zum „Duell-Codex“ erschienen – konnte nicht über die Inhumanität des patriarchalischen Spektakels hinwegtäuschen: Spätestens der Einsatz von Perkussionspistolen, geladen mit bleiernen Rundkugeln, bescherte den Angeschossenen oft tagelange, entsetzliche Agonien. Tausende europäische Adeliger und Offiziere starben in Duellen. Die Bürgerlichen, einmal „ehrbar“ geworden, folgten in übereifriger Anpassung. Kein Wunder: wurden sie doch beim Militär und in studentischen Verbindungen – den „militärischen Miniaturkopien“ (Ute Frevert) – folgerichtig sozialisiert. So duellierte sich Bismarck mit einem liberalen Abgeordneten, dessen Kinderstube er im preußischen Landtag in Frage stellte. Ferdinand Lassalle, Held der Arbeiterbewegung, starb drei Tage nach einem Duell, bei dem ihm die Geschlechtsteile zerschossen wurde. Frauen blieben verschont, galten sie doch als nicht „satisfaktionsfähig“. Im Reichstrafgesetzbuch von 1871 war der Zweikampf mit tödlichen Waffen zwar verboten, wurde aber nur lax geahndet. Der schwache Staat nahm diese Form des Selbstjustiz wollend nichtwollend hin. Fast bis zum ersten Weltkrieg, dann wurden Waffen und  Mannesehre für anderes gebraucht.

Die nationale Ehre und der Kult um sie waren stets den Kurschwankungen von Sieg und Niederlage unterworfen. Nach 1870/71 Hausse, nach 1918 Baisse. Und nach 1945 waren mit den Begriffen „Treue“ und „Volk“ auch alle „Ehren“ erledigt. Bis in den letzten Winkel hatte Hitler das Dritte Reich mit dem Ehrbegriff ideologisch durchzogen. Noch auf den Dolchen der Hitler-Jugend prangte (seit 1937) die kriegerische Formel „Blut und Ehre“. Und der Inhalt des 1935 erlassenen Gesetzes „zum Schutz des arischen Blutes und der deutschen Ehre“ ist hinreichend bekannt. Erst in den 1980er Jahren und dann – wenig überraschend – nach der Wende erlebten Konzepte von Ehre eine Renaissance. Zunächst allerdings, ohne dass der Begriff explizit fiel.

Die immer wieder angestoßenen Patriotismusdebatten um Nationalstolz und später dann „deutsche“ Leitkulturen, meinten letztendlich auch Vorstellungen von nationaler Ehre, die es nach innen wie nach außen zu verteidigen galt. Etwa im Jahre 2000, als Gerhard Schröder angesichts zunehmender, rechtsradikaler Anschläge einen „Aufstand der Anständigen“ forderte, das verfängliche Vokabular aber vermied. Und doch waren es vor allem Politiker, die „das symbolische Kapital“ (Pierre Bourdieu), das die Ehre freigibt, restlos verramscht haben. Uwe Barschel gab im Kieler Landtag mehrfach ein falsches Ehrenwort, und Helmut Kohl missbrauchte sein Ehrenwort zur Verschleierung von Gesetzesverstößen. Ein privat gegebenes Ehrenwort stellte er über die Staatsraison – zum Schaden der Demokratie.

Gierige  Manager

Die Idee, ein Berufsstand verfüge über verlässliche ethische Standards, die nicht eingeklagt werden müssen, da sie sich für die „Ehrenmänner“ von selbst verstünden, ist mittlerweile so obsolet, als hätte es sie nie gegeben. Die „Kaufmannsehre“ erscheint wie ein Relikt aus fernen Zeiten; der Normalverdiener hat den Eindruck, Korruption und Veruntreuung seien im Geschäftsleben eine gewöhnliche Sache – ja mehr noch, je höher die Unternehmensebene, desto gewöhnlicher. Selbst dort, wo früher einmal Honorabilität vorbildlich gelebt wurde, nämlich bei den Oberen Zehntausend, deren Privilegien die nachhaltige Pflege von gültigen Ehrauffassungen überhaupt erst möglich machten, ist die Sache der Ehre abhanden gekommen. Wenn es hart auf hart kommt, entlarven sich auch selbst ernannte Ehrenleute in obszönen Gesten narzistischer Selbstbezüglichkeit, so im Fall des der Veruntreuung angeklagten Vorstandssprechers der Deutschen Bank, Josef Ackermann, der in seinem Unternehmen immer noch gestützt wird.

Dabei geht der Mannesmann-Prozess gerade in Revision. Denn wie ließe sich die Causa auch anders verhandeln? An selbst auferlegte Ehrenkodexen – ob für Manager oder Wissenschaftler – man denke an den fälschenden Stammzellenforscher Hwang Woo Suk – glaubt kein Mensch mehr. So wandert eben, was sich früher scheinbar von selbst verstand, vor Gericht und zieht eine weitere Lawine an Urteilen und neuen Paragrafen nach sich.

Doch unsere Enttäuschung darüber, sollte sich in Grenzen halten. Schon immer aber war der Ehrbegriff angesiedelt zwischen Moral und Recht, also in einer schillernden Grauzone, in einem heroisch getönten Zwielicht, wo Argumente bald nicht mehr weiter halfen. Die uns aufgezwungene Auseinandersetzung mit den Ehrenmorden bestätigt diese Einsicht erneut. Es kann kein Töten geben, das weniger schwerwiegend oder gar einfach hinzunehmen ist (wenn man die  Sonderform des Totschlags einmal ausklammert). Ohnehin ist „Ehre“ keine Kategorie der demokratischen Meinungs- und Willensbildung. Öffentlich wird diese Einsicht kaum artikuliert, und doch ist in der Bevölkerung der Wunsch spürbar, das hochfahrende, oft genug ideologisch missbrauchte Gerede um Ehre und ihre Wortverbindungen vom Ehrenmann bis zum Ehrenmord endlich abzuschütteln.

Und gegen falsch verstandene Familienehre etwas anderes zu setzen – etwas, was der Nüchternheit des Rechtsstaates mehr entspricht. Die Menschenwürde etwa, wie sie auch im Artikel 1 des Grundgesetzes als unantastbar fest geschrieben ist (und nun gegenüber einer Aufweichung des Folterverbotes verteidigt werden muss). Im Gegensatz zum Begriff der Ehre beschrieb die Würde schon seit der Aufklärung einen sittlichen Wert, der jedem Menschen zuerkannt wird, und eben nicht nur wenigen Privilegierten.

Bertolt Brecht wusste das bereits 1938, als er  seine „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“ niederschrieb, und das Wort Ehre durch Würde ersetzt wissen wollte: „Dabei verschwindet der einzelne nicht so leicht aus dem Gesichtsfeld. Weiß man doch, was für ein Gesindel sich herandrängt, die Ehre eines Volkes verteidigen zu dürfen! Und wie verschwenderisch verteilen die Satten Ehre an die, welche sie sättigen, selber hungernd.“ Auch in seiner im letzten Satz geäußerten Kritik des „Ehrungswesens“ hat Brecht heute noch Recht. Die unerträgliche Anhäufung von öffentlichen Ehrungen in der Bundesrepublik dient nur wechselseitigen Eitelkeiten und nicht zuletzt den Ehrenden selbst, die schon einkalkulieren, dass der Glanz der Verehrung auf sie zurückstrahlt.

Kontrahenten ohne Humor

Ebenso sollte das freiwillige Engagement fürs Gemeinwohl nicht als „Ehrenamt“ begriffen werden, sondern als selbstverständliche Partizipation des mündigen Bürgers an einer Solidargemeinschaft, die auf wechselseitige Hilfeleistung gründet. Nein, also keine Fragen der Ehre mehr. So klingt es nur noch sonderbar anachronistisch und inhaltlich vernebelnd, wenn Stern-Chefredakteur Thomas Osterkorn sein Editorial – in Anklang an Heinrich Bölls Buch – kürzlich „die verlorene Ehre der Susanne Osthoff“ überschrieb. Nein, diese Zeiten sind vorbei. Auch von einem Comeback der nationalen „Ehre“, wie er bei der WM droht, bitten wir Abstand zu nehmen. Der Ehre haftet sowieso etwas bodenlos Humorloses an, wie Lessing in seinem Lustspiel „Minna von Barnhelm“ humorvoll demonstrierte. Da befreien sich die Protagonisten vom Joch fragwürdiger Ehrvorstellungen und schlagen dem „Gespenst der Ehre“ ein Schnippchen. Nein, sie verscheuchen es.

Jürgen Bräunlein

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